Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Mutter und Frau zu sein.
Als sie einmal wie so oft in der Kathedrale betete, trat ein Mann zu ihr, in dem sie Zacharias erkannte. Er war angezogen wie immer und hatte seine Katze auf dem Schoß. Er war um keinen Tag gealtert und hatte noch immer diese prächtigen Herzoginnenfingernägel, lang und spitz. Er gestand ihr, er sei gekommen, weil Gott auf ihre Bittgebete nicht zu antworten gedenke. Sie solle sich aber nicht grämen, er werde ihr dennoch ein Kind schicken. Er beugte sich über sie, raunte ihr das Wort Tibidabo ins Ohr und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Bei der Berührung mit diesen weichen Lippen hatte Jacinta eine Vision: Sie würde ein Kind haben, ein Mädchen, ohne einen Mann dafür zu brauchen. Dieses Mädchen würde in einer weit entfernten Stadt zu ihr kommen, die zwischen einem Mond aus Bergen und einem Meer aus Licht gefangen war, eine Stadt aus Häusern, welche nur im Traum existieren können. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrhaftigkeit der Prophezeiungen. Noch am selben Abend besprach sie sich mit dem Diakon der Kirchgemeinde, einem belesenen, weitgereisten Mann, der zu ihr sagte: »Jacinta, was du da gesehen hast, ist Barcelona, die große Zauberin, und die Sagrada-FamiliaKirche …« Zwei Wochen später machte sich Jacinta mit einem Bündel Wäsche, einem Meßbuch und ihrem ersten Lächeln in fünf Jahren auf den Weg nach Barcelona, in der festen Überzeugung, alles, was ihr der Engel Zacharias beschrieben habe, werde sich verwirklichen.
Sie durchlebte schwierige Monate, ehe sie in einem der Lager von Aldaya und Söhne, neben den Pavillons der ehemaligen Weltausstellung im Zitadellenpark, eine feste Anstellung fand. Das Barcelona ihrer Träume war zu einer feindlichen, finsteren Stadt mit geschlossenen Palästen und Fabriken geworden, aus denen giftiger Dunst drang. Sie lebte allein in einer Pension des Ribera-Viertels, wo ihr Lohn knapp für ein elendes, fensterloses Zimmer reichte, dessen Beleuchtung nur aus den Kerzen bestand, die sie in der Kathedrale entwendete und die ganze Nacht brennen ließ, um die Ratten fernzuhalten, welche Ohren und Finger des halbjährigen Babys der Ramoneta gefressen hatten, einer Prostituierten, die das angrenzende Zimmer gemietet hatte und nach elf Monaten Barcelona ihre einzige Freundin war.
Entschlossen zu überleben, ging sie täglich vor dem Morgengrauen ins Lager und verließ es erst wieder, wenn es längst dunkel war. Dort entdeckte zufällig Don Ricardo Aldaya sie, als sie sich um die Tochter eines der Vorarbeiter kümmerte, der vor Erschöpfung krank geworden war. Er sah, wieviel Eifer und Zärtlichkeit das Mädchen verströmte, und beschloß, sie zu sich nach Hause zu nehmen, damit sie seiner Frau beistünde, die mit seinem Erstgeborenen schwanger war. Ihre Gebete waren erhört worden. In dieser Nacht sah Jacinta Zacharias erneut im Traum. Er war nicht mehr schwarz gekleidet, sondern nackt, und seine Haut war schuppenbedeckt. Auch begleitete ihn nicht mehr seine Katze, sondern eine weiße, um den Oberkörper gerollte Schlange. Sein Haar war ihm auf die Taille hinuntergewachsen, und sein Lächeln war jetzt von dreieckigen, gezackten Zähnen geprägt, wie sie sie bei einigen Meerfischen gesehen hatte. In der Nacht, bevor sie aus der Pension im Ribera-Viertel auszog, um ins Aldaya-Haus überzusiedeln und dort ihre neue Stelle anzutreten, war ihre Freundin Ramoneta im Hauseingang erdolcht worden und ihr Baby in den Armen der Leiche erfroren.
Vier Monate später wurde Jorge Aldaya geboren, und obwohl sie ihm die ganze Liebe darbrachte, die ihm die Mutter nie geben konnte oder wollte, begriff die Kinderfrau, daß das nicht das von Zacharias versprochene Kind war. In diesen Jahren verlor sie ihre Jugend und wurde eine andere Frau, die einzig den Namen und das Gesicht von einst bewahrte. Die alte Jacinta hatte sie in der Pension des Ribera-Viertels zurückgelassen. Jetzt lebte sie im Schatten des Aldayaschen Luxus, fern der düsteren Stadt, die sie mittlerweile regelrecht haßte und in die sie sich nicht einmal mehr an ihrem einzigen freien Tag im Monat hinuntertraute. Sie lebte weiter in der Erwartung des Kindes, das ein Mädchen werden sollte und dem sie die ganze Liebe schenken wollte, mit der Gott ihr Herz gefüllt hatte.
Penélope Aldaya wurde im Frühling 1902 geboren. Damals hatte Don Ricardo Aldaya bereits das Haus in der Avenida del Tibidabo gekauft, diesen Kasten, von dem ihre Kollegen im Gesinde überzeugt waren, daß es dem
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