Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
wage ich anzunehmen, läßt sie kalt.«
»Du meinst also, sie wird nichts sagen?«
»Vielleicht erst in einem oder zwei Tagen. Aber ich glaube nicht, daß sie fähig ist, so etwas vor ihrem Mann geheimzuhalten. Was ist mit dem Fluchtplan? Gilt er noch?«
»Mehr denn je.«
»Freut mich, das zu hören. Jetzt glaube ich nämlich wirklich, daß es keine Umkehr mehr gibt.«
Diese Woche verging in tödlicher Langsamkeit. Die Ungewißheit auf den Fersen, ging Julián täglich in die San-Gabriel-Schule. Dort spielte er stundenlang den Anwesenden, doch er war kaum imstande, mit Miquel Moliner, der allmählich ebenso beunruhigt war wie er oder noch mehr, einige Blicke zu wechseln. Jorge Aldaya sagte nichts und war so höflich wie immer. Jacinta war ihn nicht mehr abholen gekommen. Dafür erschien jetzt jeden Nachmittag Don Ricardos Fahrer. Julián hatte das Gefühl, er sterbe, und wünschte sich, es möchte endlich geschehen, was geschehen mußte, dieses Warten möchte ein Ende haben. Am Donnerstagnachmittag nach dem Unterricht glaubte er langsam daran, daß das Glück auf seiner Seite stand. Señora Aldaya hatte nichts gesagt, vielleicht aus Scham, aus Dummheit oder aus irgendeinem der Gründe, die Miquel zu ahnen meinte. Das einzige, was zählte, war, daß sie das Geheimnis bis zum Sonntag für sich behielt. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen konnte er an diesem Abend einschlafen.
Als er am Freitagmorgen zum Unterricht kam, erwartete ihn am Eingangstor Pater Romanones.
»Ich habe mit dir zu reden, Julián.«
»Wie Sie wünschen, Pater.«
»Ich habe immer gewußt, daß dieser Tag kommen würde, und ich muß dir gestehen, daß ich mich freue, daß ich es bin, der dir die Nachricht überbringt.«
»Welche Nachricht denn, Pater?«
Julián Carax war nicht mehr Schüler der San-GabrielSchule. Seine Anwesenheit auf dem Areal, in den Klassenzimmern und selbst in den Gärten war ihm strikt untersagt. Seine Gerätschaften, Schulbücher und sämtlichen andern Habseligkeiten gingen in den Besitz der Schule über.
»Der Terminus technicus lautet blitzartige Relegation«, sagte Pater Romanones zusammenfassend.
»Darf ich den Grund erfahren?«
»Es kommen mir ein Dutzend Gründe in den Sinn, aber ich bin sicher, du wirst den passendsten aussuchen. Guten Tag, Carax. Viel Glück im Leben. Du wirst es brauchen.«
In dreißig Meter Entfernung, im Hof mit den Brunnen, beobachtete ihn eine Gruppe Schüler. Einige lachten und winkten auf Wiedersehen. Andere schauten ihn erstaunt und mitleidig an. Nur einer lächelte traurig: sein Freund Miquel Moliner, der bloß nickte und unhörbar einige Worte murmelte, die Julián in der Luft zu lesen meinte: »Bis Sonntag.«
Auf dem Heimweg in die Ronda de San Antonio sah Julián Don Ricardo Aldayas Mercedes vor dem Hutladen parken. Er blieb an der Ecke stehen und wartete. Kurz danach trat Don Ricardo aus dem Laden seines Vaters und stieg in den Wagen. Julián versteckte sich in einem Eingang, bis der Mercedes Richtung Plaza de la Universidad verschwunden war. Erst jetzt stürmte er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Dort erwartete ihn weinend seine Mutter Sophie.
»Was hast du getan, Julián?« flüsterte sie ohne Zorn.
»Verzeihen Sie, Mutter …«
Sophie umarmte ihn fest. Sie hatte abgenommen und war gealtert, als hätten ihr alle gemeinsam das Leben und die Jugend gestohlen.
»Hör mir gut zu, Julián. Dein Vater und Don Ricardo Aldaya haben alles eingefädelt, um dich in ein paar Tagen in die Armee zu schicken. Aldaya hat Beziehungen … Du mußt gehen, Julián. Du mußt irgendwohin, wo dich keiner der beiden finden kann …«
Julián glaubte im Blick seiner Mutter einen Schatten zu sehen, der sie innerlich aufzehrte.
»Ist noch was, Mutter? Etwas, was Sie mir nicht gesagt haben?«
Sophie schaute ihn mit zitternden Lippen an.
»Du mußt gehen. Wir müssen beide für immer von hier weg.«
Julián umarmte sie kräftig und flüsterte ihr ins Ohr:
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Mutter. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Den Samstag verbrachte er zurückgezogen in seinem Zimmer zwischen seinen Büchern und den Zeichenheften. Der Hutmacher war noch im Morgengrauen in den Laden hinuntergegangen und kam erst nach Mitternacht wieder herauf. Er hat nicht einmal die Stirn, es mir ins Gesicht zu sagen, dachte Julián. An diesem Abend verabschiedete er sich mit Tränen in den Augen von den Jahren, die er in diesem düsteren, kalten Zimmer verbracht hatte, in Träumen verloren, von denen er jetzt
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