Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
Vom Netzwerk:
wußte, daß sie sich nie erfüllen würden. Mit nur einer Tasche und ein wenig Wäsche und einigen Büchern versehen, küßte er am frühen Sonntagmorgen seine Mutter, die im Eßzimmer unter einigen Decken zusammengekauert schlief, auf die Stirn und ging. Über den Straßen lag bläulicher Dunst, und auf den Dächern der Altstadt zeigten sich Kupferfunken. Er schritt langsam, verabschiedete sich von jedem Eingang, von jeder Straßenecke und fragte sich dabei, ob es wohl stimmte, daß die Zeit schwindelte und er eines Tages fähig wäre, sich nur an das Gute zu erinnern und die Einsamkeit zu vergessen, die ihn in diesen Straßen so oft verfolgt hatte.
Die Estación de Francia war menschenleer; die Bahnsteige glänzten im Morgenlicht und verloren sich dann im Nebel. Julián setzte sich auf eine Bank unter dem Gewölbe und zog ein Buch hervor. Schon bald ließ er die Stunden verstreichen und wechselte Haut und Namen, bis er sich als ein anderer fühlte. Er ließ sich von den Träumen schattenhafter Figuren mitreißen und dachte, es bleibe ihm keine weitere Zuflucht außer dieser. Mittlerweile war ihm klar, daß Penélope nicht käme, daß er den Zug einzig in Begleitung seiner Erinnerung besteigen würde. Als pünktlich am Mittag Miquel Moliner im Bahnhof auftauchte und ihm seine Fahrkarte und das ganze Geld gab, das er hatte auftreiben können, umarmten sich die beiden Freunde schweigend. Julián hatte Miquel Moliner noch nie weinen sehen. Die Uhr zählte die entfliehenden Minuten und bedrängte sie.
»Es ist noch Zeit«, murmelte Miquel und beobachtete den Eingang.
Um ein Uhr fünf rief der Bahnhofsvorsteher zum letzten Mal die Fahrgäste nach Paris auf. Der Zug begann schon den Bahnsteig entlangzugleiten, als sich Julián seinem Freund zuwandte, um sich zu verabschieden. Miquel Moliner schaute ihn von draußen an, die Hände in den Taschen vergraben.
»Schreib«, sagte er.
»Sobald ich dort bin, schreibe ich dir.«
»Nein, nicht mir. Schreibe Bücher, nicht Briefe. Schreib sie für mich, für Penélope.«
Julián nickte und merkte erst jetzt, wie sehr er seinen Freund vermissen würde.
»Und bewahr dir deine Träume«, sagte Miquel. »Du kannst nie wissen, wann du sie brauchst.«
»Immer«, murmelte Julián, doch das Fauchen des Zuges hatte ihnen die Worte schon genommen.
    »Penélope erzählte mir«, fuhr Jacinta fort, »was an dem Abend geschah, an dem Señora Aldaya die beiden in meinem Zimmer ertappt hatte. Am nächsten Tag bestellte mich die Señora zu sich und fragte mich, was ich von Julián wisse. Ich sagte, nichts, er sei ein guter Junge, ein Freund von Jorge … Ich mußte Penélope in ihrem Zimmer einschließen, bis sie ihr erlauben würde, es zu verlassen. Don Ricardo war nach Madrid gefahren und sollte erst am Freitag zurückkommen. Kaum war er da, erzählte ihm die Señora, was vorgefallen war. Ich war dabei. Don Ricardo schoß von seinem Sessel auf und verpaßte der Señora eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Dann schrie er wie ein Wahnsinniger, sie solle wiederholen, was sie gesagt hatte. Die Señora war vollkommen verschüchtert. Noch nie hatten wir den Señor so gesehen. Nie. Es war, als wäre er von allen Teufeln besessen. Puterrot vor Zorn ging er in Penélopes Zimmer hinauf und zerrte sie an den Haaren aus dem Bett. Ich wollte ihn zurückhalten, doch er stieß mich mit Fußtritten weg. Noch in derselben Nacht ließ er den Familienarzt kommen, damit er sie untersuchte. Als der Arzt fertig war, sprach er mit dem Señor. Penélope wurde in ihrem Zimmer eingeschlossen, und die Señora sagte, ich solle mein Bündel schnüren.
    Man ließ mich nicht zu Penélope, nicht einmal, um mich von ihr zu verabschieden. Don Ricardo drohte, mich bei der Polizei anzuzeigen, sollte ich jemandem etwas von dem Vorgefallenen erzählen. Noch in der Nacht wurde ich hinausgeworfen, ohne daß ich wußte, wohin ich gehen sollte, nach achtzehn Jahren ununterbrochenen Dienstes im Haus. Zwei Tage später kam mich in einer Pension in der Calle Muntaner Miquel Moliner besuchen und sagte, Julián sei nach Paris gefahren. Ich sollte ihm erzählen, was mit Penélope geschehen war, und herausfinden, warum sie nicht zum Bahnhof gekommen sei. Wochenlang ging ich immer wieder zu dem Haus und bat, Penélope besuchen zu dürfen, doch man ließ mich nicht einmal zum Tor hinein. Manchmal stellte ich mich ganze Tage an die Ecke gegenüber, in der Hoffnung, sie herauskommen zu sehen. Ich habe sie nie gesehen. Sie ging nicht aus dem Haus.

Weitere Kostenlose Bücher