Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
leise murmelnd die Münzen entgegen. Ich setzte mich ins Innere, um mich vor Schnee und Kälte zu schützen. Langsam zogen die düsteren alten Häuser an den eisverschleierten Fenstern vorbei. Der Schaffner musterte mich mit der Mischung aus Argwohn und Dreistigkeit, die die Kälte auf seinem Gesicht festgefroren zu haben schien.
»Nummer zweiunddreißig, junger Mann.«
Ich wandte mich um und sah die gespenstischen Umrisse des Aldaya-Hauses wie den Bug eines dunklen Schiffes im Nebel auf uns zukommen. Mit einem Ruck hielt die Straßenbahn. Den Blick des Schaffners meidend, stieg ich aus.
»Viel Glück«, murmelte er.
Ich sah, wie sich die Bahn die Avenida hinauf verlor, bis nur noch ein leises Bimmeln zu vernehmen war. Eilig folgte ich der Mauer bis zur Bresche im hinteren Teil. Beim Erklettern glaubte ich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig Schritte im Schnee zu hören, die sich näherten. Oben auf der Mauer verharrte ich einen Moment reglos. Die Nacht war hereingebrochen. Das Knirschen der Schritte verlor sich im Wind. Ich sprang auf die andere Seite in den Garten hinunter. Das Unkraut war zu Eisstengeln gefroren. Die gefallenen Engelsstatuen lagen unter Eismänteln. Das Wasser des Brunnens war zu einem schneeüberhauchten Spiegel erstarrt, aus dem nur die steinerne Klaue des untergetauchten Engels wie ein Säbel aus Obsidian herausragte. Am Zeigefinger hingen Eiszapfen. Die anklagende Hand zeigte direkt auf die angelehnte Eingangstür.
In der Hoffnung, es möge nicht zu spät sein, stieg ich die Stufen hinan, ohne mir die Mühe zu machen, meine Schritte zu dämpfen. Ich stieß die Tür auf und trat in die Halle. Eine Prozession von Wachskerzen führte ins Innere. Es waren Beas fast heruntergebrannte Kerzen. Ich folgte ihnen bis zum Fuß der Treppe. Der Kerzenweg wies in den ersten Stock hinauf. Meinem an den Wänden verzerrten Schatten folgend, wagte ich mich die Treppe hinauf. Im ersten Stock angekommen, sah ich, daß zwei weitere Kerzen in den Korridor hineinführten. Eine dritte flackerte vor Penélopes ehemaligem Zimmer. Ich trat hinzu und klopfte leise an.
»Julián?« fragte eine zitternde Stimme.
Ich griff nach der Klinke, und während ich langsam die Tür öffnete, wußte ich nicht mehr, wer mich auf der andern Seite erwartete. Bea sah mich aus einer Ecke heraus an, in eine Decke gehüllt. Ich stürzte zu ihr und umarmte sie wortlos. An meinen Wangen spürte ich ihr nasses Gesicht.
»Ich wußte nicht, wohin«, flüsterte sie. »Ich hab dich einige Male zu Hause angerufen, aber da war niemand. Ich hatte Angst …«
Mit den Fäusten trocknete sie sich die Tränen und schaute mich an. Ich nickte und brauchte nichts weiter zu sagen.
»Warum hast du mich Julián genannt?«
Sie warf einen Blick auf die halboffene Tür.
»Er ist hier. In diesem Haus. Er kommt und geht. Er hat mich neulich ertappt, als ich ins Haus hineinwollte. Ohne daß ich ihm etwas sagte, wußte er, wer ich war. Er wußte, was geschehen war, und hat mich in diesem Zimmer untergebracht und mir eine Decke, Wasser und zu essen gebracht. Er hat gesagt, ich soll warten, alles wird gut, du würdest mich holen kommen. In der Nacht haben wir uns stundenlang unterhalten. Er hat mir von Penélope, von Nuria erzählt … Vor allem hat er von dir erzählt, von uns beiden. Er hat gesagt, er muß dich lehren, ihn zu vergessen …«
»Wo ist er jetzt?«
»Unten. In der Bibliothek. Er sagte, er erwartet jemand, ich soll mich nicht von der Stelle rühren.«
»Wen erwartet er?«
»Ich weiß es nicht. Er sagte, es ist jemand, der mit dir kommt, du würdest ihn herbringen …«
Als ich in den Korridor hinausschaute, waren unten an der Treppe schon die Schritte zu hören. Ich erkannte den fahlen Schatten auf den Mauern, den schwarzen Mantel, den kapuzengleich aufgestülpten Hut, den Revolver in der Hand, blitzend wie eine Sense. Fumero. Immer hatte er mich an jemanden oder etwas erinnert, aber bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht begriffen, woran.
4
Ich machte mit den Fingern die Kerzen aus und gab Bea ein Zeichen, ganz still zu sein. Sie ergriff meine Hand und schaute mich fragend an. Unter uns waren Fumeros langsame Schritte zu hören. Ich führte sie wieder ins Zimmer hinein und bedeutete ihr da zu bleiben, hinter der Tür verborgen.
»Geh auf keinen Fall hier raus, was auch geschehen mag«, flüsterte ich.
»Verlaß mich jetzt nicht, Daniel, bitte.«
»Ich muß Carax warnen.«
Sie schaute mich flehend an, aber ich ging wieder in den
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