Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
konzentrieren und den Handlungsfaden wiederzufinden. Der Verehrer, ein zynischer, aber gutherziger Detektiv, erklärte einer Nebenfigur, warum Frauen wie Veronica Lake das Verderben jedes richtigen Mannes seien und warum es trotzdem keine andere Möglichkeit gebe, als sie verzweifelt zu lieben und an ihrer Treulosigkeit zugrunde zu gehen. Fermín Romero de Torres, der allmählich zu einem sachkundigen Kritiker wurde, bezeichnete diese Art Geschichten als Märchen von der Gottesanbeterin. Seiner Meinung nach waren das nur frauenfeindliche Fantasien für Büroangestellte mit Verstopfungsproblemen und vor Langeweile verwelkte Frömmlerinnen, die davon träumten, sich ins Laster zu stürzen und das Leben einer verdorbenen Hure zu führen. Ich lächelte, als ich mir die Anmerkungen vorstellte, die mein Kritikerfreund von sich gegeben hätte, wäre er nicht zum Naschwerkstand gegangen. In weniger als einer Sekunde gefror mir das Lächeln. Der sechs Reihen weiter vorn sitzende Zuschauer hatte sich umgedreht und starrte mich an. Das Lichtbündel des Projektors bohrte sich durch das Dunkel im Saal, ein Anflug von flackerndem Licht, das gerade eben bunte Linien und Flecken zeichnete. Sogleich erkannte ich den Mann ohne Gesicht, Coubert. Sein lidloser Blick glänzte stählern. Im Dunkeln war sein lippenlos tückisches Lächeln zu ahnen. Ich spürte, wie sich mir kalte Finger ums Herz schlossen. Auf der Leinwand brüllte ein Posaunenchor los, es wurde geschossen und geschrien, dann wurde die Szene ausgeblendet. Für einen Augenblick versank das Parkett in vollkommene Dunkelheit, und ich hörte nichts als die Pulsschläge, die mir in den Schläfen hämmerten. Langsam wurde auf der Leinwand eine neue Szene hell, so daß sich die Schwärze des Saals in Schwaden blauen und purpurroten Halbdunkels auflöste. Der Mann ohne Gesicht war verschwunden. Ich wandte mich um und sah, wie sich eine Silhouette durch den Parterregang entfernte und Fermín Romero de Torres kreuzte, der von seinem Süßigkeitenfeldzug zurückkam. Er drängte sich in die Reihe herein und setzte sich wieder in seinen Sessel. Dann reichte er mir ein Schokoladenplätzchen und schaute mich ein wenig irritiert an.
»Daniel, Sie sind ja weiß wie ein Nonnenhintern. Geht es Ihnen nicht gut?«
Ein Luftzug wischte durchs Parkett.
»Es riecht merkwürdig«, bemerkte Fermín Romero de Torres. »Wie nach ranzigem Notarsfurz.«
»Nein. Es riecht nach verbranntem Papier.«
»Kommen Sie, nehmen Sie ein Lutschbonbon, das kuriert alles.«
»Ich mag nicht.«
»Dann behalten Sie es eben, man weiß nie, wann einem ein Lutschbonbon aus der Patsche helfen kann.«
Ich steckte es in die Jackettasche und ließ mich durch den Rest des Films treiben, ohne Veronica Lake oder den Opfern ihrer fatalen Reize Beachtung zu schenken. Fermín Romero de Torres war im Film und in seinen Schokoladenplätzchen aufgegangen. Als nach der Vorstellung das Licht anging, glaubte ich aus einem schlechten Traum zu erwachen und hätte die Erscheinung dieses Mannes im Parkett am liebsten als Sinnestäuschung, als Trick der Erinnerung betrachtet, doch sein kurzer Blick im Dunkeln hatte genügt, um mir seine Botschaft zuzutragen. Er hatte weder mich noch unser Gespräch vergessen.
2
Die erste Auswirkung von Fermíns Erscheinen war bald zu spüren: Ich hatte viel mehr Freizeit. Wenn er nicht gerade einem exotischen Band nachjagte, um einen Kundenwunsch zu befriedigen, ordnete er die Ladenbestände neu ein, ersann Werbestrategien fürs Viertel, brachte Ladenschild und Schaufensterscheiben auf Hochglanz oder polierte mit einem Lappen und Alkohol die Buchrücken. Unter diesen Gegebenheiten beschloß ich, meine Mußezeit auf zwei in letzter Zeit vernachlässigte Dinge zu verwenden: dem Rätsel Carax weiter nachzuspüren und, vor allem, nach Möglichkeit mehr Zeit mit meinem Freund Tomás Aguilar zu verbringen, den ich vermißte.
Tomás war ein nachdenklicher, zurückhaltender Junge, der wegen seines ernsten, ja bedrohlichen Raufboldaussehens gefürchtet war. Er hatte den Körper eines Ringers, Gladiatorenschultern und einen harten, durchdringenden Blick. Wir hatten uns viele Jahre zuvor während meiner ersten Woche in der Jesuitenschule der Calle Caspe bei einer Keilerei kennengelernt. Nach Schulschluß hatte ihn sein Vater abgeholt, begleitet von einem hochnäsigen Mädchen, das sich als Tomás’ Schwester herausstellte. Ich hatte die unglückliche Idee, dumm über sie zu witzeln, und noch bevor ich mit der Wimper
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