Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Beim zweiten Angriff gab das Schloss klein bei. Sowie ich im Zimmer stand, überfiel mich der säuerliche, Übelkeit erregende Gestank.
»Mein Gott«, murmelte der Mieter hinter mir.
Der ehemalige Star vom Paralelo lag bleich und schweißbedeckt auf einer Pritsche. Als sie mich erblickte, verzogen sich ihre schwarzen Lippen zu einem Lächeln. Die Hände umklammerten das Giftfläschchen, das bis auf den letzten Tropfen geleert war. Der Blut-und Gallegestank ihres Atems erfüllte das Zimmer. Der Mieter hielt sich mit der Hand Nase und Mund zu und zog sich auf den Korridor zurück. Ich sah, wie Irene Sabino sich wand, während das Gift sie innerlich zerfraß. Der Tod ließ sich Zeit.
»Wo ist Marlasca?«
Sie schaute mich durch die Todestränen hindurch an. »Er hat mich nicht mehr gebraucht. Er hat mich nie geliebt.«
Ihre Stimme war rau und gebrochen. Ein trockener Husten verursachte ein Geräusch in ihrer Brust, als würde etwas reißen, und einen Moment später trat ihr eine dunkle Flüssigkeit in den Mund. Mit ihrem letzten Lebenshauch schaute sie mich an, ergriff meine Hand und drückte sie kräftig.
»Sie sind verdammt, wie er.«
»Was kann ich tun?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ein neuer Hustenanfall ließ ihre Brust erbeben. Die Äderchen in den Augen platzten, und ein Netz blutender Linien breitete sich zu den Pupillen hin aus.
»Wo ist Ricardo Salvador? Liegt er in Marlascas Grab, in der Familiengruft?«
Irene Sabino schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten stumm ein Wort: Jaco.
»Wo also ist Salvador?«
»Er weiß, wo Sie sind. Er sieht Sie. Er hat es auf Sie abgesehen.«
Ich hatte den Eindruck, sie begann zu delirieren. Der Druck ihrer Hand wurde immer schwächer.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Er war ein guter Mensch. Ein guter Mensch. Er hat ihn verändert. Er war ein guter Mensch …«
Ein Geräusch von zerreißendem Fleisch kam aus ihrem Mund, und ihr Körper straffte sich in einem Muskelkrampf. Irene Sabino starb, die Augen auf meine geheftet, und nahm Diego Marlascas Geheimnis mit ins Grab. Jetzt blieb nur noch ich.
Ich bedeckte ihr Gesicht mit einem Laken und seufzte. In der Tür stand der Mieter und bekreuzigte sich. Ich sah mich um und versuchte, etwas zu finden, was mir weiterhelfen konnte, irgendeinen Hinweis, was ich als Nächstes tun sollte. Irene Sabino hatte ihre letzten Tage in einer fensterlosen Zelle von vier mal zwei Metern verbracht; ein Metallbett, auf dem jetzt ihr Leichnam lag, ein Schrank an der Wand gegenüber und ein Nachttischchen waren die einzigen Möbel. Unter dem Bett schaute, neben einem Nachttopf und einer Hutschachtel, ein Koffer hervor. Auf dem Nachttisch befanden sich ein Teller mit Brotkrumen, ein Wasserkrug und ein Stapel Postkarten, die sich bei genauerem Hinsehen als Heiligenbilder und Totenzettel von Beerdigungen entpuppten. Daneben lag in ein weißes Tuch gehüllt etwas, was wie ein Buch aussah. Ich wickelte es aus und fand das Exemplar von Die Schritte des Himmels, das ich Señor Sempere gewidmet hatte. Auf der Stelle verflog das Mitleid, das mir diese sterbende Frau eingeflößt hatte. Die Unglückliche hatte meinen besten Freund umgebracht, um ihm dieses verfluchte Buch zu entreißen. Da erinnerte ich mich an das, was mir Sempere das erste Mal gesagt hatte, als ich seine Buchhandlung betrat: Jedes Buch habe eine Seele, die Seele dessen, der es geschrieben habe, und die Seele derer, die es gelesen und von ihm geträumt hätten. Sempere war im Glauben an diese Worte gestorben, und mir ging auf, dass Irene Sabino auf ihre Weise ebenfalls daran geglaubt hatte.
Noch einmal las ich die Widmung. Auf Seite sieben fand ich die erste Markierung – eine bräunliche Zeichnung, die über die Worte geschmiert war und einen sechszackigen Stern darstellte, wie sie ihn mir vor Wochen mit dem Messer in die Brust geritzt hatte. Ich begriff, dass die Zeichnung mit Blut gemacht war. Ich blätterte weiter und stieß auf immer mehr Zeichnungen. Lippen. Eine Hand. Augen. Sempere hatte sein Leben für einen elenden, lächerlichen Jahrmarktsbudenzauber hergegeben.
Ich steckte das Buch in die Mantelinnentasche und kniete neben dem Bett nieder, wo ich den Koffer hervorzog und den Inhalt auf den Boden kippte. Nichts außer Kleidern und alten Schuhen. Dann öffnete ich die Hutschachtel und fand ein Lederetui mit dem Rasiermesser, mit dem mich Irene Sabino behandelt hatte. Plötzlich breitete sich ein Schatten auf dem
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