Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
entging dem Schuss. Ich spürte sein Gewicht auf mir und seinen Atem im Gesicht. Einen Zentimeter neben meinem linken Auge schnappte kräftig die Schere zu. Mit aller Kraft stieß ich die Stirn gegen sein Gesicht, sodass er zur Seite fiel. Ich hob die Waffe und legte auf sein Gesicht an. Mit gespaltener Lippe richtete sich Marcos auf und starrte mich an.
»Hast ja keinen Mumm«, murmelte er.
Er legte die Hand auf den Lauf und lächelte mir zu. Ich drückte ab. Die Kugel zerfetzte ihm die Hand und riss ihm den Arm wie nach einem Schlag nach hinten. Er fiel rücklings zu Boden und hielt sich sein verstümmeltes Handgelenk, während sich sein pulverversengtes Gesicht vor Schmerz verzerrte und er lautlos heulte. Ich stand auf und ließ ihn dort liegen, auf dass er in einer Lache seines eigenen Urins verblute.
21
Mit letzter Kraft schleppte ich mich durch die Gassen des Raval zum Paralelo, wo vor dem Teatro Apolo eine Reihe Taxis warteten. Ich schlüpfte in das erstbeste hinein. Als er die Tür hörte, drehte sich der Fahrer um, und als er mich erblickte, versuchte er mich mit einer Grimasse abzuschrecken. Ungeachtet seines Protests ließ ich mich auf den Rücksitz fallen.
»Hören Sie, Sie sterben mir doch nicht etwa da hinten?«
»Je eher Sie mich dahin bringen, wo ich hinwill, desto schneller sind Sie mich wieder los.«
Er fluchte leise und ließ den Motor an.
»Und wo wollen Sie hin?«
Wenn ich das wüsste, dachte ich.
»Fahren Sie einfach los, ich sag’s Ihnen dann schon.«
»Losfahren wohin?«
»Richtung Pedralbes.«
Zwanzig Minuten später erblickte ich die Lichter der Villa Helius auf dem Hügel. Ich gab dem Fahrer ein Zeichen, der schon nicht mehr daran geglaubt hatte, mich je wieder loszuwerden. Er setzte mich vor der Tür ab und vergaß beinahe, für die Fahrt zu kassieren. Ich schleppte mich zum Eingang und klingelte. Dann ließ ich mich auf die Stufen fallen und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hörte Schritte näher kommen, und irgendwann hatte ich den Eindruck, die Tür werde geöffnet und eine Stimme sage meinen Namen. Ich spürte eine Hand auf der Stirn und glaubte Vidals Augen zu erkennen.
»Verzeihen Sie, Don Pedro«, sagte ich flehend, »ich wusste nicht, wohin …«
Er rief etwas, und nach einer Weile spürte ich, wie mich mehrere Hände an Armen und Beinen hochhoben. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich in Don Pedros Schlafzimmer, in demselben Bett, das er mit Cristina in den kaum zwei Monaten ihrer Ehe geteilt hatte. Ich seufzte. Vidal schaute mich vom Fußende des Bettes aus an.
»Sprich jetzt nicht«, sagte er. »Der Arzt kommt gleich.«
»Glauben Sie ihnen nicht, Don Pedro«, wimmerte ich. »Glauben Sie ihnen nicht.«
Vidal nickte mit zusammengepressten Lippen. »Natürlich nicht.«
Er nahm eine Decke und legte sie über mich.
»Ich geh runter und warte auf den Arzt. Schlaf.«
Nach einer Weile hörte ich Schritte und Stimmen ins Schlafzimmer kommen. Ich spürte, dass mir die Kleider ausgezogen wurden, und sah die zahllosen Schnitte, die meinen Körper wie blutiger Efeu bedeckten. Ich spürte, wie die Pinzetten Glassplitter mit Haut und Fleisch aus den Wunden zupften. Ich spürte die Wärme des Desinfektionsmittels und die Nadelstiche, mit denen der Arzt die Wunden vernähte. Es war kein Schmerz mehr da, kaum noch Müdigkeit. Sowie ich zusammengenäht, ausgebessert und verbunden war wie eine kaputte Marionette, deckten mich der Arzt und Vidal zu und betteten meinen Kopf auf das angenehmste, weichste Kissen meines Lebens. Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht des Arztes, eines aristokratischen Herrn mit beruhigendem Lächeln. Er hielt eine Spritze in der Hand.
»Sie haben Glück gehabt, junger Mann«, sagte er, während er mir die Nadel in den Arm bohrte.
»Was ist das?«, murmelte ich.
Neben dem Gesicht des Arztes erschien dasjenige Vidals.
»Es wird dir schlafen helfen.«
In meinem Arm breitete sich eine Kältewolke aus, die sich bis zur Brust hinzog. Ich fiel in einen schwarzsamtenen Schacht, während mich Vidal und der Arzt aus der Höhe beobachteten. Die Welt schloss sich zu einem Lichttropfen, der sich in meinen Händen verflüchtigte. Ich tauchte in einen warmen, endlosen, chemischen Frieden, den ich am liebsten nie wieder verlassen hätte.
Ich erinnere mich an eine Welt aus schwarzem Wasser unter dem Eis. Das Mondlicht streifte das gefrorene Gewölbe über mir und zerfiel in tausend körnige Strahlenbündel, die sich in der Strömung
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