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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ich ins Arbeitszimmer hinauf und holte aus der Schreibtischschublade das Buch, das ich aus dem Friedhof der Vergessenen Bücher gerettet hatte. Ich knipste die Leselampe an und bog sie so, dass das Licht auf die Seiten fiel. Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen.
     
    Lux Aeterna
    D. M.
     
    Auf den ersten Blick bestand das Opus aus einer scheinbar zusammenhanglosen Sammlung von Texten und Gebeten. Es war ein Originalmanuskript, eine Handvoll Seiten in Maschinenschrift, die schmucklos in Leder gebunden waren. Nach einer Weile der Lektüre konnte ich in der Abfolge von Begebenheiten, Gesängen und Reflektionen, aus denen der Text bestand, eine gewisse Methode entdecken. Die Sprache hatte ihren eigenen Rhythmus, und was anfänglich jeder Form und jeden Stils zu entbehren schien, entpuppte sich nach und nach als hypnotischer Gesang, dessen Sog den Leser immer stärker erfasste, um ihn schließlich in einen Zustand zwischen Benommenheit und Selbstvergessenheit versinken zu lassen. Ähnlich ging es mir mit dem Inhalt, dessen zentrale Achse erst im ersten Teil deutlich wurde – oder im ersten Gesang, denn das Werk schien nach der Art alter Dichtungen in Gesänge aufgeteilt, in denen man mit Zeit und Raum nach freiem Ermessen verfuhr. Da wurde mir klar, dass dieses Lux Aeterna, in Ermangelung eines anderen Begriffs, eine Art Totenbuch war.
    Nach den ersten dreißig oder vierzig Seiten voller Ausschmückungen und Rätsel geriet man in ein präzises, ausgefallenes, zunehmend beunruhigendes Wechselspiel von Gebeten und Fürbitten, in dem der Tod, in Zeilen unbekannten Versmaßes einmal als weißer Engel mit Reptilienaugen dargestellt und ein andermal als lichtvolles Kind, als einzige, allgegenwärtige Gottheit definiert wurde, die sich in der Natur, im Verlangen und in der Zerbrechlichkeit des Daseins manifestiere.
    Wer immer dieser geheimnisvolle D. M. sein mochte, in seinen Versen zeigte sich der Tod als gefräßige, ewige Kraft. Eine raffinierte Mischung von Anleihen aus verschiedenen Paradies- und Höllenvorstellungen schillerte hier auf einer einzigen Ebene. Laut D. M. gab es nur einen Anfang und ein Ende, nur einen Schöpfer und Zerstörer, der sich unter verschiedenen Namen offenbarte, um die Menschen zu verwirren und ihre Schwächen zu prüfen, einen einzigen Gott, dessen wahres Wesen zwei Seiten hatte, eine sanft-barmherzige und eine grausam-dämonische.
    So weit konnte ich folgen, doch nach diesen Anfängen schien der Autor vom Kurs seiner Erzählung abgekommen zu sein, sodass es kaum noch möglich war, die Bezüge und Bilder zu enträtseln, die den Text wie düstere Visionen erfüllten. Unwetter, bei denen es Blut und Feuer regnete. Heerscharen uniformierter Leichen, die durch endlose Ebenen zogen und dabei alles Leben vernichteten. Infanten, mit Fahnenfetzen vor Festungstoren erhängt. Schwarze Meere, in denen Tausende gequälter Seelen bis in alle Ewigkeit in giftigem Eiswasser dahintrieben. Aschewolken und Ozeane aus Knochen und verfaultem Fleisch, durchzogen von Insekten und Schlangen. Diese infernalischen, ekelerregenden Bilder setzten sich bis zum Überdruss fort.
    Je weiter ich mit der Lektüre kam, desto mehr hatte ich das Gefühl, die Landkarte eines kranken, zerrütteten Geistes zu durchwandern. Mit jeder Zeile hatte der Autor, ohne es zu wissen, sein Abgleiten in den Wahn dokumentiert. Das letzte Drittel des Buches schließlich schien vom Willen zur Umkehr zu zeugen, ein verzweifelter Ruf des Verfassers aus der Zelle seiner Unvernunft, um dem dunklen Labyrinth zu entrinnen, das sich in seinem Geist aufgetan hatte. Der Text erstarb mitten in einem flehenden Satz, ohne jegliche Erklärung.
    An diesem Punkt fielen mir fast die Augen zu. Durchs Fenster drang ein leichter Meereswind herein, der den Nebel von den Dächern wischte. Ich wollte das Buch eben zuklappen, als ich merkte, dass im Filter meines Verstandes etwas hängen geblieben war, etwas, was mit der Schreibmaschinenschrift dieser Seiten zu tun hatte. Ich blätterte zum Anfang zurück und begann den Text durchzugehen. In der fünften Zeile fand ich es zum ersten Mal. Von da an tauchte dasselbe Merkmal alle paar Zeilen auf: Einer der Buchstaben, das große S, war immer leicht nach rechts geneigt. Ich zog ein weißes Blatt aus der Schublade und spannte es in die Underwood auf dem Schreibtisch ein. Aufs Geratewohl schrieb ich einen Satz.
    Sanft klingen die Glocken von
    Santa Maria del Mar.
     
    Ich zog das Blatt heraus und betrachtete es unter

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