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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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gelöst. Anne beobachtet ihn gleichmütig. Sein Atem ist kurz und pfeifend, sein Gesicht mit Erde beschmutzt, dicker geworden durch mehrere übereinander gelagerte Materieschichten. Seine Haare, zu schillernden Strähnen verbunden, ähneln ölverschmierten Blütenblättern. Sein struppiger, mehrere Millimeter langer Bart verleiht ihm das Aussehen eines Abenteurers.
    »Es scheint dir nicht gutzugehen, mein schöner Liebling. Ich bedaure, du weißt … Ich bedaure, dich in diese Sache hineingezogen zu haben.«
    Anne streicht ihm mit dem Handrücken über die Wange. Sofort kratzt er sich an dieser Stelle.
    »Spürst du mich? Kitzle ich dich? Ist es so?«
    Anne lächelt und kuschelt sich an ihn. Plötzlich öffnet Evan die Augen. Seine letzten Kräfte anspannend, stützt er sich auf einen Ellbogen und schützt die Augen gegen das flach einfallende Sonnenlicht, um den Horizont abzusuchen. Außer Tsepel, der sich nahe beim Feuer ausgestreckt hat, keine Menschenseele weit und breit. Evan hebt den Schlafsack und schreckt zurück, erschüttert über die Ausdünstungen des verwesenden Körpers. Anne ist völlig entstellt. Evan hält den Atem an und beugt sich über sie, um ihre Stirn zu küssen.
    »Guten Tag... meine Schöne.«
    Schwerfällig lässt er sich auf den Rücken fallen.

    »Ich habe geträumt … von deiner kleinen Lucie … Sie flog wie ein Ballon … Sie schrie... vor Lachen.«

    Zögernd tappen die kleinen rundlichen Füße über einen gepflegten Rasen voller Maiglöckchen. Einige Schritte entfernt kauert John, bereit, die Anfängerin im Gehen zu empfangen.
    »Bravo! Das ist gut! Weiter so!«
    Lucie bewegt sich vorwärts, ihr Haar weht im Wind. Es ist halblang und ganz blond. Die Hände nach vorn gestreckt wankt sie gefährlich hin und her.
    »Los, komm. Du bist schon fast da.«
    Die Ferse löst sich vom Boden, die Fußsohle folgt nach, aber die Zehen bleiben träge, schleifen übers Gras. Lucie stolpert und fällt hin. John eilt zu ihr und schließt sie in die Arme.
    »Sehr gut, mein Schatz. Bravo. Du wirst es schaffen.«
    Er wirft sie in die Luft, um sie zu belohnen, um sie in ihrer Beharrlichkeit zu bestärken. Lucie steigt in die Höhe wie ein mit Helium gefüllter Ballon, saust herab und fliegt dann wieder davon, vergnügt schreiend. John fängt sie auf und verschlingt sie mit den Augen.
    »Versuchen wir’s noch einmal?«

    Lucie sieht ihn glückselig an. John stellt sie auf den grünen Teppich, entfernt sich mit einigen schnellen Schritten, besetzt erneut seine Position als Empfangschef und klatscht in die Hände.
    »Auf! Los geht’s!«
    Lucie unternimmt wieder ihren gewagten Gang, macht ein paar Schritte und stürzt. Ihr Großvater läuft zu ihr und kitzelt sie. Lucie windet sich glucksend im Gras. Er hilft ihr auf, fasst sie an der Hand, begleitet sie ein Stück und lässt los. Lucie bewegt sich ganz allein vorwärts, wobei sie anmutig die Hüften hebt. Zwei Arme umschlingen sie gerade rechtzeitig vor dem Sturz.
    »Bravo!«
    Fröhlich drückt Henry Lucie an sich. John bringt seine Genugtuung zum Ausdruck.
    »Das reicht. Jetzt bist du an der Reihe.«
    Er klopft Henry auf die Schulter und geht in Richtung Haus, vorbei an einer nagelneuen Hollywoodschaukel. Darauf sitzt Evan. Sein rechtes, in Gips gelegtes Bein ruht ausbalanciert auf dem Griff einer Krücke. Rose ist bei ihm.
    »Bevor Sie nach Hause fahren, essen Sie doch mit uns zu Abend, nicht wahr?«
    Ihre Stimme ist sanft und ruhig. Sie wendet sich ihm mit eindringlichem Blick zu, um eine positive Antwort zu erhalten. Er lacht amüsiert.

    »Mit Vergnügen. Aber es darf nicht spät werden, weil ich heute Nachtdienst habe.«
    »Sehr gut. Und Sie, Henry?«
    Henry sieht Lucie fragend an. Sie starrt zurück, ohne Reaktion. Henry nickt.
    »Ja. Das heißt wohl, dass sie einverstanden ist.«
    Rose lächelt ihm dankbar zu.
    »Danke.«
    Sie steht auf und kehrt zu John ins Haus zurück. Henry lässt sich auf dem Rasen nieder und setzt Lucie auf seine Knie. Anne hockt im Gras nah bei ihnen, betrachtet sie, wie in Bann geschlagen. Lucie betastet Henrys Nase. Er zieht eine Grimasse, ohne ihr Einhalt zu gebieten. Plötzlich erschallt ein Donnergrollen. Der Himmel verdunkelt sich rasch. Lucie purzelt von Henrys Knien und robbt auf dem Rasen davon.
    »Auch ich hätte mir zutiefst gewünscht, dich in meinen Armen zu empfangen .«
    Lucie hält inne, dreht den Kopf und wirft Anne einen Blick zu, als hätte sie sie gehört.
    »Ich hätte so viele Dinge mit dir machen

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