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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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daransetzten, die Diskretion zu wahren.
    Jetzt war es plötzlich eine öffentliche Sache. Schon als ich mich eine Stunde später auf dem Hauptbahnhof befand, um den Pendelzug hinaus nach Wassingen zu nehmen, hatte ich das Gefühl, als würde sich alles um die Neuigkeit drehen. Fotos von allen dreien – von Rein, Mariam Kadhar und Otto Gerlach – waren auf den Aushängern und den Titelseiten der Morgenzeitungen zu sehen, und ich erinnere mich, dass ich den Eindruck eines Films hatte, bei dem der Regisseur ohne jede Vorwarnung beschlossen hatte, seinen Zuschauern selbst den Dolchstoß zu versetzen: in dieser alles entscheidenden Szene, in der das Ganze plötzlich umkippt, wenn alle alten, finsteren Andeutungen deutlich werden und man in ein neues Tempo geworfen wird.
    Genau in so einem Augenblick also, in dem man sich oft entscheidet, ob man nun den Saal verlässt oder ob es sich doch lohnen könnte, sitzen zu bleiben und die Geschichte bis zum Ende zu verfolgen.
    Als ich meinen Zug bestiegen hatte und dieser losgefahren war, empfand ich tatsächlich ein gewisses Gefühl der Befreiung, weil ich aus der Stadt fuhr.
     
    Das war also mein erstes Wiedersehen mit Wassingen, an dem Tag, als M und G am Schandpfahl der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden, und es war mehr als ein Monat seit letztem Mal vergangen. Nachdem ich Reins Manuskript aus den Händen gelegt hatte, hatte ich ein paar ziemlich lustlose Abende in der Nieuwe Halle und im Concertgebouw verbracht, aber natürlich nicht den Schatten von Ewa entdeckt. Es war mir auch nicht gelungen, irgendwelche besonders attraktiven Pläne hervorzuzaubern, während ich im Vlissingen oder in einigen anderen Bars bei Bier und Zigaretten saß. Vielleicht hatte ich eine Weile mit dem Gedanken gespielt, sie einfach nicht mehr weiter zu suchen, aber im nüchternen Morgenlicht hatte ich natürlich alle derartigen Ideen wieder beiseite geschoben.
    Schließlich entschied ich mich also zu einem weiteren Versuch in Wassingen. Wieweit ich mir tatsächlich einbildete, dass es etwas bringen könnte, das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Ehrlich gesagt glaubte ich nicht besonders daran, dass es wirklich Ewa gewesen war, die einer von Maertens’ Leuten dort draußen Ende Februar gesehen hatte. Wahrscheinlich war mir der Gedanke, dass es überhaupt keinen derartigen Beobachter gegeben hatte, sondern dass Maertens das Ganze sich nur ausgedacht hatte, um den Anschein zu erwecken, dass er zumindest auf irgendetwas gestoßen war, auch nicht sehr fremd. Wie auch immer, ich war mir darüber klar, dass die Wassingen-Spur nicht mehr als ein Strohhalm war, aber mangels anderer Möglichkeiten musste ich mich an diesen klammern.
    Außerdem war ich während des Monatswechsels März – April an einen Punkt gelangt, an dem ich die Suche nach Ewa als ein Ziel in sich selbst ansah. In gewissen klaren Momenten ahnte ich zwar, dass ich sie nie wiederfinden würde, aber weiterzuleben, ohne alles getan zu haben, was in meiner Macht stand, um sie zu finden, das erschien mir kaum möglich.
    Zumindest erschien es mir damals nicht möglich.
    Außerdem hatte ich Zeit. Bis Mitte Juni war mein Auskommen gesichert. Ich hatte keine Arbeit und keine Geschäfte, die ich zu erledigen hatte. Jeder Tag war eine leere Seite.
    Warum also nicht suchen?
     
    Der gleiche unbezwingbare Bodybuilder stand in der Bar und servierte meinen Whisky mit dem gleichen unbezähmbaren Oststaatencharme. Ich leerte das Glas in einem Zug und trat hinaus auf den Markt. Die Windstärke war ungefähr die gleiche wie letztes Mal, aber es war deutlich wärmer. Draußen vor der pseudo-italienischen Eisdiele hatte man sogar schon weiße Plastikstühle und den einen oder anderen Tisch hingestellt, obwohl man sicher noch mindestens einen Monat würde warten müssen, bevor jemand auf den Gedanken kam, sich hier niederzulassen.
    Überhaupt war es spärlich mit Leuten bestückt. Noch war es früher Nachmittag, und auch wenn es sicher ein ziemlich großes Kader von Arbeitslosen und Langzeitkrankgeschriebenen in einer Gegend wie dieser hier gab, war klar, dass es wohl noch ein paar Stunden dauern würde, bis der richtige Verkehr zwischen den Geschäften einsetzte.
    Ich durchschritt die kurze Arkade und kam vor Nummer 36 wieder heraus, Ewas Haus.
    Ewas Haus? Ich zündete mir eine Zigarette an und starrte es eine Weile an. Sechzehn Stockwerke hoch. Graubraune Fassade mit ein paar nassen Flecken. Unendliche Reihen von kahlen Fenstern und eingefassten,

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