Barins Dreieck
winzigen Balkons.
Ich zog seufzend an der Zigarette. Ein Gefühl von hilfloser Sinnlosigkeit – vielleicht noch gewürzt mit einer Prise Absurdität – legte sich über mich, aber dann brach plötzlich die Sonne hinter einer Wolke hervor und blendete mich, sodass ich für einen Moment fast das Gleichgewicht verlor. Ich schloss die Augen und fasste mich. Dachte wieder an Beethovens Violinkonzert und an das Husten und an die Reihe der Ereignisse, die mich dazu gebracht hatten, vor diesem Mietshaus in einem Vorort von A. zu stehen, und ich spürte sogleich, dass es genau diese Art von Gedanken war, die ich von mir fernhalten sollte, wenn ich überhaupt weiterkommen wollte.
Folglich drückte ich die Zigarette aus und trat ein. Stellte mich vor die Namenstafel der Mieter und schrieb alle zweiundsiebzig Namen in mein Notizbuch. Das dauerte natürlich ein paar Minuten, und zwei Frauen – beide Immigrantinnen und mit schmuddeligen Kleinkindern im Schlepptau – warfen mir misstrauische Blicke zu, als sie an mir vorbeigingen.
Ich kehrte ins Zentrum zurück und richtete meine Schritte auf das Café, in dem ich schon das letzte Mal gesessen hatte. Zeigte dem Mädchen an der Kasse ein paar Fotos; sie war wirklich sehr entgegenkommend und studierte sie lange und gründlich, konnte aber schließlich doch nur bedauernd den Kopf schütteln.
Ich bedankte mich und kaufte eine Tasse Kaffee. Im Laufe der folgenden Stunden zeigte ich meine Fotos noch weiteren gut zwanzig Personen – sowohl im Zentrum als auch vor dem Eingang zu Ewas Haus, aber das Ergebnis war genauso niederschmetternd, wie ich es eigentlich hätte befürchten müssen.
Null und nichtig.
Ich hatte insgesamt zehn Arbeitstage in Wassingen geplant, nicht mehr und nicht weniger, und um nicht gleich am ersten Tag alle Möglichkeiten auszuschöpfen, gab ich mich zufrieden und nahm den Zug, der um 16.28 Uhr nach A. zurückfuhr.
Am Hauptbahnhof kaufte ich drei Tageszeitungen, mit ihnen bewaffnet, ließ ich mich etwas später im Planner’s nieder, um dort zu essen und über den Mord an Germund Rein zu lesen.
Die Neuigkeit war eine Bombe, da gab es keinen Zweifel, und offenbar wusste man nicht so recht, wie man damit umgehen sollte. Die Polizei hatte ein kleines Kommuniqué herausgegeben, aber allem Anschein nach war es ziemlich inhaltslos, und irgendwelche anderen Äußerungen hatte es nicht gegeben. Was man in Journalistenkreisen wusste, war, dass Mariam Kadhar und Otto Gerlach verhaftet worden waren wegen des dringenden Verdachts, Germund Rein getötet zu haben. Das war alles.
Der Rest war reine Spekulation.
Und Liebesgeschichte. Ein Dreiecksdrama, wie jemand es nannte. Spekulationen darüber, was an diesem schicksalsschweren Tag im November draußen im Kirschgartenhof passiert war. Über den Abschiedsbrief.
Darüber, was die Polizei wohl auf die Spur gebracht hatte.
Letzteres war ein weites Feld. Die Polizei hatte nicht die geringste Andeutung verlauten lassen, und die Theorien, die man in den Zeitungen, die ich durchsah, präsentierte, hatten nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun.
Dass sie – M und G – ein Verhältnis hatten, wurde allgemein vorausgesetzt, ebenso, dass das natürlich der springende Punkt war. Fotos von den beiden gab es unzählige, aber ich konnte kein einziges Bild entdecken, auf dem beide zusammen auftauchten. Gerade das erschien mir etwas merkwürdig, und ich musste feststellen, dass sie sich wirklich alle Mühe gegeben hatten, ihre Affäre vor den Augen der Welt geheim zu halten. Was ihnen offenbar auch sehr gut gelungen war. Keiner der vielen Schreiber, die jetzt das Wort ergriffen, wagte auch nur anzudeuten, dass ein diesbezügliches Gerücht im Umlauf sein könnte – weder vor noch nach Reins Tod.
Wie gesagt, es war eine Bombe, und keiner hatte die Lunte gerochen, als sie brannte.
Während ich meinen Kaffee trank, betrachtete ich die verschiedenen Fotos von Otto Gerlach sehr eingehend. Verglichen mit meinem Bild von ihm, wie ich es in Erinnerung hatte, muss ich zugeben, dass die Fotos in den Zeitungen sehr viel vorteilhafter waren. Ich konnte feststellen, dass er, genau wie Mariam Kadhar, bedeutend jünger sein musste als Rein, und auch wenn es nur schwer einzusehen war, warum eine Frau wie sie so einen Mann brauchen sollte, so hatte ich eigentlich noch mehr Probleme, mir zu erklären, welche Verwendung sie eigentlich für ihren Ehemann gehabt hatte. Ich dachte erneut an ihre zarten Achseln, und ich sah ihr Gesicht
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