Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
und ein Dreizack bohrte sich in die Mauer.
»Jabor!«, rief Faquarl. »Wir gehen!«
Ich wagte einen Blick nach unten, wo Jabor mit dem Horla rang. Seine Kraft schien ungebrochen, doch der Strom der Feinde riss nicht ab. Ich konzentrierte mich wieder darauf, die Öffnung zu erreichen, in der Faquarl bereits verschwunden war, senkte den Schnabel und schlüpfte hindurch. Hinter mir erschütterte eine gewaltige Explosion den Raum und ich vernahm das unbändige Wutgeheul des Schakals.
In dem engen, stockfinsteren Gang klang Faquarls Stimme dumpf und fremd. »Wir sind gleich draußen. Ab jetzt würde ich dir raten, Rabengestalt anzunehmen.«
»Warum?«
»Da draußen gibt es jede Menge von den Viechern. Wir mischen uns unter ihren Schwarm und gewinnen so auf dem Weg zur Außenmauer ein bisschen Zeit.«
Zwar nahm ich von Faquarl nur äußerst ungern irgendeinen Rat an, aber ich hatte keine Ahnung, was uns draußen erwartete. Hauptsache, es gelang uns, aus dem Tower zu entkommen. Darüber, wie ich anschließend Faquarl entkommen sollte, konnte ich nachdenken, wenn es so weit war. Daher überwand ich meinen Widerwillen und wechselte die Gestalt.
»Hast du’s?«
»Jau. Diese Erscheinungsform habe ich zwar noch nie ausprobiert, aber besonders schwierig scheint sie mir nicht zu sein.«
»Ist Jabor hinter uns?«
»Nein.«
»Dann kommt er wahrscheinlich nach. Ah, da vorn ist schon der Ausgang. Wir haben ihn getarnt, deshalb dürfte man ihn noch nicht entdeckt haben. Schlüpf schnell hinaus und dann im Sturzflug ab nach unten. Dann siehst du schon den Küchenhof, in dem sich die Raben um die Abfälle balgen. Dort treffen wir uns wieder. Und benimm dich ja unauffällig.«
Vor mir ein Scharren, dann plötzlich grelles Licht. Faquarl war weg, und ich erkannte den Umriss des Ausgangs, vor den ein Netz aus Tarnfäden gespannt war. Ich hüpfte ein Stück weiter, bis mein Schnabel an den Zauber stieß, zwängte mich hindurch und steckte den Kopf hinaus in die kalte Novemberluft.
Ohne zu zögern, stieß ich mich ab und segelte abwärts Richtung Innenhof.
Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass ich noch längst nicht in Sicherheit war: Die fernen Dächer Londons waren hinter den vielen runden Türmen und Zwischenmauern kaum auszumachen. Auf sämtlichen Mauern und Türmen gingen Wachposten auf und ab und in unregelmäßigen Abständen zogen Suchkugeln über den Himmel. Man hatte bereits Alarm gegeben. Von einem hoch gelegenen Ausguck heulte eine Sirene und nicht weit davon entfernt trabten im innersten Hof mehrere Polizeibataillone auf ein für mich nicht sichtbares Ziel zu.
Ich ging in einem kleinen Nebenhof nieder, der durch zwei Seitengebäude des Hauptturms von der allgemeinen Aufregung abgeschnitten war. Das Kopfsteinpflaster war mit fettigen Brotstückchen und Speckschwarten übersät – und mit einem Schwarm hungriger, krächzender Raben.
Einer davon hüpfte auf mich zu. »Bartimäus, du Knalltüte!«
»Was ist denn?«
»Dein Schnabel ist himmelblau. Bring das sofort in Ordnung.«
Also ehrlich! Schließlich war ich zum ersten Mal Rabe! Obendrein hatte ich mich im Dunkeln verwandeln müssen. Was erwartete dieser Faquarl eigentlich? Aber zum Zanken war es weder der rechte Ort noch der rechte Moment. Ich korrigierte meine Schnabelfarbe.
»Man durchschaut unsere Tarnung sowieso«, schnauzte ich ihn an. »Hier draußen lungern mindestens tausend Wachen herum.«
»Stimmt. Aber wir brauchen bloß ein bisschen Zeit. Noch weiß man nicht, dass wir Raben sind, und wenn wir bei den anderen bleiben, dauert es länger, bis man uns aus dem Schwarm herausgepickt und überprüft hat. Jetzt müssen sie nur noch losfliegen…«
Eben hackten hundert Raben noch ahnungslos und mit sich und der Welt zufrieden an kalten Speckschwarten herum – im nächsten Augenblick offenbarte ihnen Faquarl auf der ersten Ebene seine wahre Gestalt. Es war sofort wieder vorbei, doch die Wirkung war durchschlagend. Vier Raben fielen vor Schreck tot um, etliche andere trennten sich wieder von ihrem Frühstück, und der Rest stob mit panischem Krächzen auf, Faquarl und ich mittendrin. Um bloß nicht zurückzubleiben, schlugen wir verzweifelt mit den Flügeln, flogen lang gezogene Kurven und ließen uns im Sturzflug fallen, je nachdem, was die anderen machten.
Hoch empor und über das flache Dach des Burgfrieds hinweg, von dem eine riesige Fahne flatterte und menschliche Wächter Ausschau hielten, auf der anderen Seite wieder hinab und im Gleitflug
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