Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
seiner Nase. Er schaute angestrengt durch die Linsen aus trübem Bergkristall. Es dauerte einen Moment, bis er den Blick scharf gestellt hatte. Als die Flasche deutlich vor ihm stand, schnappte er nach Luft. Die Ratte war verschwunden und statt ihrer sah er ein kleines schwarzrotes Geschöpf mit aufgedunsenem Gesicht, Käferflügeln und sechseckiger Unterseite. Die Augen standen offen und hatten einen betrübten Ausdruck. Nathanael nahm die Brille ab und schaute abermals hin. In der Lösung dümpelte die braune Ratte.
»Mann!«, schnaufte er.
»Ein Scharlachroter Plagegeist«, brummte sein Meister, »eingefangen und eingeweckt vom Medizinischen Institut Lincoln’s Inn. Ein niederer Kobold, aber ein nicht zu unterschätzender Seuchenverbreiter. Das Trugbild der Ratte kann er nur auf der materiellen Ebene erzeugen, auf den anderen Ebenen wird sein wahres Wesen offenbar.«
»Ist er tot, Sir?«, fragte Nathanael.
»Tot? Das will ich wohl meinen. Wenn nicht, dürfte er ziemlich ungehalten sein. Schließlich steckt er schon mindestens fünfzig Jahre in dieser Flasche – ich habe ihn von meinem ehemaligen Meister.«
Er stellte die Flasche ins Regal zurück. »Wie du siehst, Junge«, fuhr er fort, »sind sogar die schwächsten Dämonen bösartig, gefährlich und schwer zu erkennen. Man muss immer auf der Hut sein. Sieh dir das hier mal an.«
Hinter einem Bunsenbrenner zog er ein rechteckiges Glaskästchen hervor, das keinen Deckel zu haben schien. Sechs winzige Wesen summten darin herum und stießen unablässig gegen die Wände ihres Gefängnisses. Von weitem konnte man sie für Insekten halten, doch als er näher hinsah, stellte Nathanael fest, dass sie dafür zu viele Beine hatten.
»Diese Stechlinge«, erklärte der Zauberer, »sind vielleicht die niedersten Dämonen, die es gibt. Sie haben so gut wie keinen Verstand, und um ihre wahre Gestalt zu erkennen, braucht man nicht einmal eine Brille. Trotzdem können sie eine echte Plage sein, wenn man nicht richtig aufpasst. Siehst du die orangefarbenen Stachel unter ihren Schwänzen? Damit verursachen sie auf der Haut des Opfers äußerst schmerzhafte Schwellungen, viel schlimmer als Bienen oder Wespen. Eine großartige Methode, jemandem eine Lehre zu erteilen, sei es ein lästiger Rivale… oder ein störrischer Schüler.«
Nathanael beobachtete, wie die zornigen Winzlinge mit den Köpfen gegen das Glas prallten, und nickte lebhaft.
»Ja, Sir.«
»Tückische kleine Biester.« Sein Meister schob das Kästchen weg. »Dabei bedarf es nur der richtigen Formel und sie gehorchen aufs Wort. So gesehen demonstrieren sie, wenn auch in kleinstem Maßstab, die obersten Grundsätze unserer Kunst. Wir verfügen über wirkungsvolle Werkzeuge, die wir gut im Griff haben müssen. Zunächst aber müssen wir lernen, wie wir uns selber schützen können.«
Nathanael musste bald feststellen, dass es noch lange dauern würde, bevor er die von seinem Meister erwähnten Werkzeuge selbst einsetzen dürfte. Zweimal pro Woche traf er sich mit ihm im Labor, und monatelang tat er nichts anderes, als sich Notizen zu machen. Er wurde in den Prinzipien der Pentagramme und der Kunst der Runen unterwiesen. Er lernte die jeweiligen Reinigungsrituale, die ein Zauberer vorzunehmen hatte, bevor er eine Beschwörung durchführen konnte. Er musste mit Mörser und Stößel hantieren und Räuchermischungen zerkleinern, welche die gewünschten Dämonen zum Erscheinen brachten oder aber unwillkommene fern hielten. Er kürzte Kerzen auf bestimmte Längen und stellte sie zu unzähligen verschiedenen Anordnungen zusammen. Aber kein einziges Mal beschwor sein Meister irgendetwas herbei.
Da ihm das alles viel zu langsam ging, verschlang Nathanael in seiner Freizeit die Bücher aus dem Regal in der Bibliothek. Er beeindruckte Mr Purcell mit seinem unstillbaren Wissensdurst. In Miss Lutyens’ Zeichenstunden legte er ungewöhnlichen Eifer an den Tag und wandte das Gelernte auf die Pentagramme an, die er nunmehr unter den prüfenden Augen seines Meisters nachmalte. Und die ganze Zeit über setzte die Brille auf dem Regal im Labor Staub an.
Miss Lutyens war die Einzige, der er seine Enttäuschung anvertraute.
»Nur Geduld«, beschwichtigte sie ihn. »Geduld ist die vornehmste Tugend. Schnell und fein kann nicht sein, der kleinste Fehler kann schlimme Folgen haben. Sei nicht so verbissen, konzentriere dich lieber auf das Nächstliegende. Und jetzt, wenn du so weit bist, möchte ich, dass du das hier noch mal
Weitere Kostenlose Bücher