Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
zeichnest, aber diesmal mit verbundenen Augen.«
Sechs Monate nach Beginn dieser Ausbildungsphase wurde Nathanael zum ersten Mal Zeuge einer Beschwörung. Zu seinem großen Verdruss durfte er nicht aktiv daran teilnehmen. Sein Meister zog die Pentagramme, einschließlich eines kleineren, in das sich Nathanael stellen musste. Der Junge durfte noch nicht einmal die Kerzen anzünden, und, was noch ärgerlicher war, er durfte auch seine Brille nicht aufsetzen.
»Wie soll ich da etwas sehen?«, fragte er mürrischer, als es sonst seine Art war. Ein durchdringender Blick ließ ihn verstummen.
Die Beschwörung fing ziemlich enttäuschend an. Nach der Rezitation der Zauberformeln, die Nathanael zu seiner Befriedigung größtenteils verstand, schien nichts mehr zu passieren. Eine leichte Brise strich durchs Zimmer, sonst rührte sich nichts. Das leere Pentagramm blieb leer. Mr Underwood stand mit geschlossenen Augen neben ihm und war anscheinend eingeschlafen. Nathanael wurde es allmählich langweilig. Die Beine taten ihm weh. Offenbar hatte der angerufene Dämon einfach keine Lust zu erscheinen. Plötzlich bemerkte Nathanael entsetzt, dass in einer Zimmerecke ein paar Kerzen umgekippt waren. Ein Papierstoß hatte Feuer gefangen und die Flammen breiteten sich rasch aus. Nathanael schrie erschrocken auf und trat aus…
»Bleib, wo du bist!«
Nathanael blieb fast das Herz stehen. Sein Fuß verharrte in der Luft. Der Zauberer hatte die Augen aufgeschlagen und funkelte ihn zornig an, dann sprach er mit Donnerstimme die sieben Worte der Entlassungsformel. Das Feuer verschwand und mit ihm der Papierstoß. Die Kerzen standen wieder aufrecht und brannten friedlich vor sich hin. Nathanaels Herz flatterte wie ein verängstigter Vogel.
»Aus dem Kreis treten, was?« Noch nie hatte die Stimme seines Meisters so vernichtend geklungen. »Ich habe dir doch gesagt, dass manche Dämonen unsichtbar bleiben. Sie sind Meister der Täuschung und haben tausend Tricks in petto, um dich abzulenken und zu unbedachten Handlungen zu verleiten. Noch ein Schritt und du hättest selber in Flammen gestanden. Denk darüber nach, wenn du heute ohne Abendbrot ins Bett gehst. Und jetzt ab in dein Zimmer!«
Die nächsten Beschwörungen verliefen weniger beunruhigend. Nur mithilfe seiner gewöhnlichen Sinne beobachtete Nathanael Dämonen in einer Vielzahl verführerischer Erscheinungsformen. Einige nahmen die Gestalt harmloser Tiere an – maunzende Kätzchen, großäugige Hündchen und hilflos umherhoppelnde Hamster, die Nathanael am liebsten auf den Arm genommen hätte. Niedliche kleine Vögel hüpften und pickten an den Rändern ihrer Pentagramme herum. Einmal regnete es plötzlich Apfelblüten von der Decke, und sie erfüllten das Zimmer mit so betörendem Wohlgeruch, dass er davon ganz schläfrig wurde.
Er lernte, Verlockungen aller Art zu widerstehen. Einige der unsichtbaren Geister überfielen ihn mit widerlichen Gerüchen, von denen ihm übel wurde. Andere umschmeichelten ihn mit einem Duft, der ihn an Miss Lutyens’ oder Mrs Underwoods Parfüm erinnerte. Wieder andere versuchten, ihn mit grässlichen Geräuschen einzuschüchtern, mit markerschütterndem Getöse, Geflüster und schnatterndem Geschrei. Er hörte fremde Stimmen flehend nach ihm rufen, erst hoch und schrill, dann immer tiefer, bis sie dumpf wie Totenglocken klangen. Aber er verschloss sich alldem und geriet nie wieder in Versuchung, seinen Schutzkreis zu verlassen.
Ein ganzes Jahr verging, bis Nathanael bei den Anrufungen seine Brille aufsetzen durfte. Jetzt offenbarte sich ihm die wahre Gestalt vieler Dämonen. Manche der etwas mächtigeren hielten ihre Trugbilder allerdings sogar auf den anderen sichtbaren Ebenen aufrecht. Trotz dieser ganzen verstörenden Wahrnehmungsverschiebungen blieb Nathanael gelassen und zuversichtlich. Er machte nicht nur im Unterricht Fortschritte, sondern auch in puncto Selbstbeherrschung. Er wurde zäher, belastbarer, entschlossener. Seine gesamte Freizeit verbrachte er über den Büchern.
Mr Underwood war mit der raschen Auffassungsgabe seines Schülers überaus zufrieden, und dieser war, obwohl es ihm immer noch zu langsam ging, ebenfalls davon begeistert, was er alles lernte. Es war eine fruchtbare Beziehung, wenn auch keine besonders herzliche, und so hätte es weitergehen können, wäre es nicht zu jenem schrecklichen Vorfall gekommen, der sich im Sommer vor Nathanaels elftem Geburtstag zutrug.
Bartimäus
10
Endlich dämmerte es. Im Osten
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