Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
fingerten die ersten Sonnenstrahlen unwillig über den Himmel. Der Horizont hinter den Docklands wurde allmählich heller. Ich feuerte den neuen Morgen regelrecht an, denn mir konnte es gar nicht schnell genug Tag werden.
Die Nacht war ermüdend und oft demütigend gewesen. Ich hatte mich bestimmt in der Hälfte aller Zustellungsbezirke Londons herumgedrückt, nur um irgendwann wieder zu flüchten. Ich war von einem dreizehnjährigen Mädchen misshandelt worden. Ich hatte in einer Mülltonne Schutz suchen müssen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hockte ich jetzt, als Wasserspeier getarnt, auf dem Dach der Westminster Abbey. Das war ja wohl das Hinterletzte!
Ein schräger Sonnenstrahl fiel auf die goldene Einfassung des Amuletts, das um meinen moosbewachsenen Hals hing, und es blitzte gleißend auf wie eine Glasscherbe. Instinktiv legte ich die Tatze darüber, nur für den Fall, dass Späher in der Nähe waren, aber große Sorgen machte ich mir deswegen eigentlich nicht mehr.
Ich hatte ein paar Stunden in der Mülltonne ausgeharrt, lange genug, um neue Kraft zu schöpfen und von oben bis unten vom Gestank faulenden Gemüses durchtränkt zu werden. Dann kam ich auf die glänzende Idee, mich als Steinfigur auf der Kathedrale niederzulassen. Dort war ich durch die Fülle magischer Ornamente innerhalb des Gebäudes, deren Impulse diejenigen des Amuletts überlagerten, hinreichend geschützt. 23
(Viele bedeutende Magier des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wurden nach ihrem Tod (der eine oder andere sogar kurz davor) in Westminster Abbey beigesetzt. Fast alle nahmen mindestens ein machtvolles Artefakt mit ins Grab. Das diente vor allem der Zurschaustellung ihres Reichtums und ihrer Macht und war zugleich eine unglaubliche Vergeudung der betreffenden Gegenstände. Zudem verhinderten sie dadurch boshafterweise, dass ihre Nachfolger das Objekt übernahmen – andere Zauberer schreckten nämlich aus Angst vor übernatürlichen Vergeltungsmaßnahmen zu Recht davor zurück, solche Grabbeigaben zu stehlen. )
Von meinem luftigen Hochsitz aus hatte ich zwar in der Ferne ein paar Suchkugeln erspäht, aber keine davon war in meine Nähe geflogen. Schließlich war die Nacht zu Ende gegangen und die Zauberer waren der Suche überdrüssig geworden. Die Kugeln drehten ab, die Gefahr war ausgestanden.
Als es dämmerte, wartete ich ungeduldig auf den Ruf des Jungen. Er hatte gesagt, er würde mich bei Sonnenaufgang zurückholen, aber der Faulpelz schlief wahrscheinlich noch wie ein Murmeltier.
Bis es so weit war, ordnete ich meine Gedanken. Eins war mal sicher, nämlich dass der Junge als Sündenbock für einen erwachsenen Zauberer herhalten musste, irgendeine einflussreiche Persönlichkeit, der daran gelegen war, unerkannt zu bleiben und die Schuld für den Diebstahl auf den Kleinen abzuwälzen. Darauf zu kommen, war kein Kunststück – kein Kind seines Alters würde mich von sich aus für einen derart schwierigen Auftrag anrufen. Vermutlich wollte der unbekannte Zauberer Lovelace eins auswischen und gleichzeitig das mächtige Amulett in seinen Besitz bringen. Falls dem so war, fuhr er volles Risiko. Gemessen an der Hetzjagd, der ich gerade entkommen war, waren ein paar ziemlich mächtige Leute wegen des Diebstahls ziemlich in Aufregung.
Simon Lovelace war schon für sich genommen ein nicht zu unterschätzender Gegner. Die Tatsache, dass er es geschafft hatte, sowohl Faquarl als auch Jabor in seine Dienste zu nehmen (und im Zaum zu halten), war Beweis genug. Ich wollte nicht in den Schuhen des Bengels stecken, wenn Lovelace ihn in die Finger bekam.
Dann war da noch das Mädchen, diese Nichtmagierin, deren Freunde meine Tarnung durchschaut und meinen Anschlägen widerstanden hatten. Es war schon viele hundert Jahre her, dass ich dieser Sorte Mensch zuletzt begegnet war, und ich hatte nicht erwartet, ausgerechnet hier in London darauf zu stoßen. Ob sich die Jugendlichen ihrer Fähigkeiten überhaupt bewusst waren, war schwer zu sagen. Das Mädchen schien nicht einmal richtig zu wissen, was es mit dem Amulett auf sich hatte, nur dass es sich um eine lohnende Beute handelte. Sie arbeitete bestimmt weder für Lovelace noch für den Jungen. Merkwürdig. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Rolle sie bei dem Ganzen spielte.
Andererseits war das nicht mein Problem. Das Dach der Kathedrale wurde soeben in Sonnenlicht getaucht und ich gestattete mir ein kurzes, genüssliches Flügelstrecken.
In diesem Augenblick
Weitere Kostenlose Bücher