Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
setzte sie hinzu: »Ts-ts-ts, ich muss schon sagen, dieses Jahr sind alle schrecklich konservativ angezogen!«
»Ist der Premierminister hier irgendwo, Mrs Underwood?«
Sie reckte den Hals. »Ich glaube nicht, mein Lieber, nein, noch nicht. Aber da drüben ist Mr Duvall, der Polizeichef…« Nicht weit entfernt stand ein stämmiger Mann in grauer Uniform und hörte geduldig zwei jungen Frauen zu, die gleichzeitig auf ihn einzureden schienen. »Ich habe ihn mal kennen gelernt – ein ganz reizender Mann. Und natürlich sehr einflussreich. Warte mal, wen haben wir denn noch? Meine Güte… siehst du die Dame dort drüben?« Nathanael sah sie. Sie war erschreckend dünn, hatte weißes, kurz geschorenes Haar und ihre Finger schlossen sich wie Vogelkrallen um den Stiel ihres Glases. »Das ist Jessica Whitwell. Sie ist eine sehr berühmte Zauberin und hat irgendwas mit der Sicherheit zu tun. Vor zehn Jahren hat sie die tschechischen Unterwanderer dingfest gemacht. Die haben einen Mariden auf sie gehetzt, aber sie hat ein Vakuum geschaffen, das ihn verschluckt hat. Und das hat sie alles ganz allein geschafft, ohne größere Verluste. Also mach später lieber einen großen Bogen um sie, John«, schloss Mrs Underwood lachend und trank ihr Glas aus. Sofort stand ein Diener neben ihr und füllte es fast bis zum Rand nach. Auch Nathanael lachte. Wie so oft färbte in Mrs Underwoods Gesellschaft etwas von ihrer Fröhlichkeit auf ihn ab. Seine Anspannung ließ ein wenig nach.
»Achtung, Achtung! Der Herzog und die Herzogin von Westminster!« Zwei livrierte Pagen eilten vorüber und rempelten Nathanael unsanft an. Eine kleine, zänkisch aussehende Frau mit einem altmodischen, schwarzen Kleid, einem goldenen Fußkettchen und herrischer Miene bahnte sich mit den Ellbogen ihren Weg durch das Gedränge, gefolgt von einem abgespannt wirkenden Mann. Mrs Underwood sah ihnen stirnrunzelnd nach.
»Was für eine grässliche Person! Ich weißwirklich nicht, was der Herzog an ihr findet.« Sie trank noch einen Schluck Champagner. »Und da – gütiger Himmel! Was ist denn mit dem passiert? Dort kommt Sholto Pinn, dem das große Geschäft an der Piccadilly-Straße gehört.« Nathanael beobachtete, wie ein großer, dicker Mann in einem weißen Leinenanzug auf zwei Krücken die Treppe herunterhumpelte. Jeder Schritt schien ihn zu schmerzen. Er hatte das Gesicht voller Schürfwunden und das eine Auge war ganz blau und zugeschwollen. Zwei Diener umschwirrten ihn und bahnten ihm den Weg zu einer Sitzgruppe an der Wand.
»Der sieht aber gar nicht gut aus«, sagte Nathanael.
»Allerdings. Offenbar hat er einen schlimmen Unfall gehabt. Vielleicht hat er irgendetwas Falsches geliefert bekommen… Der arme Mann.« Vom Champagner beflügelt, lieferte Mrs Underwood Nathanael Kurzbiografien der meisten bedeutenden Männer und Frauen, die jetzt nach und nach eintrafen. Es war die Crème de la Crème aus Regierung und Gesellschaft, die einflussreichsten Persönlichkeiten Londons (und damit der ganzen Welt). Während ihm Mrs Underwood ihre Verdienste und Heldentaten schilderte, wurde sich Nathanael umso mehr bewusst, was für ein Niemand er war, verglichen mit all diesem Ruhm und dieser Macht. Das Selbstbewusstsein, das ihn während der Autofahrt einen Augenblick lang erfüllt hatte, war verflogen und an seine Stelle traten quälende Minderwertigkeitsgefühle. Mehrmals erspähte er seinen Meister, der stets am Rand einer Gruppe stand, im besten Falle geduldet und oft einfach ignoriert. Seit dem Zwischenfall mit Lovelace war sich Nathanael darüber im Klaren, wie unfähig Underwood war, und der heutige Abend bewies das einmal mehr. Seine Kollegen wussten genau, dass er ein schwacher Mann war. Nathanael knirschte erbittert mit den Zähnen. So hatte er sich seine Einführung in die Gesellschaft nicht vorgestellt – als verachtenswerter Gehilfe eines verachtenswerten Zauberers! Das hatte er nicht verdient!
Mrs Underwood zupfte ihn am Ärmel. »Da! Siehst du ihn, John? Das ist er! Das ist er!«
»Wer?«
»Rupert Devereaux. Der Premierminister.«
Nathanael hatte keine Ahnung, wo er plötzlich hergekommen war. Aber da stand er, ein kleiner, schlanker Mann mit hellbraunem Haar im Mittelpunkt eines Knäuels drängelnder, schubsender Smokings und Cocktailkleider, dem zum Trotz er auf wundersame Weise Würde und Gelassenheit bewahrte. Er hörte zu, nickte und lächelte freundlich. Der Premierminister! Der mächtigste Mann Großbritanniens, vielleicht der
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