Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Tomatensuppe brachte. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und musterte den Jungen. Nathanael brachte es nicht über sich, sie anzusehen.
»Tja«, sagte sie ruhig, »ich hoffe, du bist mit dir zufrieden. Nach dem, was mir Arthur erzählt hat, hast du dich wirklich sehr schlecht benommen.«
Während ihn der Wutanfall seines Meisters eher betäubt hatte, erschütterten ihn Mrs Underwoods wenige Worte mit ihrem Unterton heimlicher Enttäuschung zutiefst. Nun verließ ihn noch der letzte Rest Selbstbeherrschung. Er hob den Kopf, sah Mrs Underwood an und spürte Tränen in den Augenwinkeln brennen.
»Ach, Nath-… John!« Er hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. »Warum konntest du bloß nicht warten? Miss Lutyens hat immer gesagt, dein schlimmster Fehler sei die Ungeduld, und sie hatte Recht! Du wolltest losrennen, bevor du überhaupt laufen gelernt hast, und ich weiß nicht, ob dir dein Meister das jemals verzeihen kann.«
»Er hat gesagt, er verzeiht es mir nie«, erwiderte Nathanael mit schwacher Stimme. Er kämpfte mit den Tränen.
»Er ist furchtbar wütend, John, und das zu Recht.«
»Er hat gesagt, meine… meine Laufbahn sei damit beendet.«
»Du hättest es wahrhaftig verdient.«
»Mrs Underwood…!«
»Aber wenn du offen und ehrlich zugibst, was du getan hast, hört er dir vielleicht zu, wenn er wieder da ist. Vielleicht.«
»Nein, bestimmt nicht. Dafür ist er viel zu wütend.«
Mrs Underwood setzte sich neben Nathanael aufs Bett und legte ihm den Arm um die Schulter. »Du glaubst doch nicht, dass du der erste Gehilfe bist, der sich zu viel zugetraut hat, oder? Das sind oft die begabtesten. Arthur ist fuchsteufelswild, aber andererseits imponiert es ihm auch. Ich finde, du solltest dich ihm voll und ganz anvertrauen und ihn um Verzeihung bitten. Das wird ihn auf jeden Fall besänftigen.«
Nathanael schniefte laut. »Meinen Sie, Mrs Underwood?« Wie immer siegten ihre beruhigende Gegenwart und ihr gesunder Menschenverstand über seinen Trotz und seinen Stolz. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht sollte er seinem Meister tatsächlich alles gestehen…
»Und ich will auch versuchen, ihn umzustimmen«, fuhr Mrs Underwood fort. »Obwohl du das weiß Gott nicht verdient hast. Wie es hier aussieht!«
»Ich räume sofort auf, Mrs Underwood, jetzt gleich.« Nathanael fühlte sich schon ein bisschen besser. Vielleicht sollte er seinem Meister tatsächlich alles erzählen, bis hin zu dem Amulett und seinem Verdacht gegen Lovelace. Das würde ihn zwar große Überwindung kosten, aber danach würde alles einfacher.
»Trink erst mal deine Suppe.« Mrs Underwood stand auf. »Und danach bereitest du dich auf das Gespräch mit deinem Meister vor.«
»Warum ist Mr Underwood überhaupt ins Ministerium gefahren? Heute ist doch Sonntag.« Nathanael fing an, seine Kleider vom Boden aufzusammeln und wieder in die Schubladen zu stopfen.
»Ein Notfall, mein Lieber. Man hat in der Innenstadt einen bösartigen Dschinn eingefangen.«
Nathanael bekam eine Gänsehaut. »Einen Dschinn?«
»Ja. Viel mehr weiß ich auch nicht, aber angeblich hat er sich als einer von Mr Lovelace’ Botenkobolden ausgegeben. Er ist in Mr Pinns Laden eingedrungen und hat dort unermesslichen Schaden angerichtet. Aber man hat einen Afriten auf ihn angesetzt und ihn festgenommen. Er wird gerade verhört. Dein Meister glaubt, dass der Zauberer, der ihn beauftragt hat, irgendwie in Verbindung mit diesen Diebstählen steht, die ihm seit einiger Zeit Kopfzerbrechen machen – vielleicht sogar mit der Widerstandsbewegung. Deswegen will er dabei sein, wenn man den Dschinn zum Sprechen bringt. Aber du hast jetzt wahrhaftig andere Sorgen, John. Du solltest dir lieber überlegen, was du deinem Meister sagst. Und schrubb den Boden blitzblank!«
»Mach ich, Mrs Underwood.«
Kaum war die Tür wieder verschlossen, lief Nathanael auch schon zum Dachfenster, riss es auf und tastete unter den kalten, nassen Ziegeln nach seiner Bronzescheibe. Er holte sie herein und schloss das Fenster wieder, denn der Regen prasselte heftig auf die Luke. Die Metallscheibe war kalt, und Nathanael musste seine ganze Überredungskunst aufbieten, bis sich das Säuglingsgesicht endlich widerstrebend zeigte.
»Ich werd verrückt«, sagte der Kobold. »Lange nich gesehn. Dachte schon, du hättst mich vergessen. Lässt du mich jetzt endlich gehn?«
»Nein«, entgegnete Nathanael schroff. »Such sofort Bartimäus. Ich will wissen, wo er ist und was er macht. Oder ich gehe
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