Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
raus in den Garten und vergrabe den Spiegel.«
»Oha, wir sind wohl heute mit dem falschen Fuß aufgestanden? Schon mal was von Höflichkeit gehört? Na schön, ich probier’s, aber ich hab schon einfachere Aufträge erledigt, sogar von dir…« Unter Murren und angestrengten Grimassen verschwamm das Säuglingsgesicht, um kurz darauf wieder zu erscheinen, nur viel blasser, wie in weiter Ferne. »Bartimäus, hast du gesagt? Bartimäus von Uruk?«
»Ja. Wie viele gibt es denn noch?«
»Du würdest staunen, Meister Wüterich. Also reg dich wieder ab. Kann ’ne Weile dauern.«
Die Scheibe wurde stumpf. Nathanael warf sie aufs Bett, überlegte es sich dann anders und schob sie unter die Matratze. Dann fuhr er in fliegender Hast fort, sein Zimmer aufzuräumen. Er schrubbte den Boden, bis von den Pentagrammen nichts mehr zu sehen war und sogar die Wachstropfen so gut wie verschwunden waren. Er verstaute seine Kleider sorgfältig im Schrank und stellte alles andere wieder an seinen Platz. Zu guter Letzt aß er seine Suppe. Sie war kalt.
Als Mrs Underwood das Tablett holen kam, sah sie sich beifällig um. »Brav, John«, lobte sie ihn. »Jetzt machst du dich noch selber ein bisschen zurecht, und wenn du schon dabei bist, kannst du dich auch gleich waschen. Was war das?«
»Was denn, Mrs Underwood?«
»Ich dachte, jemand hätte gerufen.«
Nathanael hatte es auch gehört. Ein ersticktes »Hey!« drang unter dem Bett hervor. »Ich glaube, es kommt von unten«, sagte er matt. »Vielleicht ist jemand an der Tür.«
»Meinst du? Dann sehe ich wohl lieber mal nach.« Mit gerunzelter Stirn ging sie hinaus und drehte den Schlüssel wieder um.
Nathanael zerrte die Matratze hoch. »Und?«, knurrte er.
Der Säugling hatte tiefe Ringe unter den Augen und wirkte irgendwie unrasiert. »Also«, verkündete er, »ich hab mein Bestes getan. Mehr kann man echt nicht verlangen.«
»Zeigen!«
»Na schön. Bitte sehr.« Das Gesicht verschwand und wurde sogleich von einem Blick über die Innenstadt von London ersetzt. Ein Silberstreifen, es musste die Themse sein, wand sich durch ein dunkelgraues Labyrinth aus Lagerhäusern und Hafenanlagen. Der Regen trübte die Sicht, doch Nathanael entdeckte rasch, worauf es ankam: eine gewaltige Burganlage, umgeben von mehreren hintereinander gestaffelten, hohen grauen Mauern. In der Mitte ragte eine hohe, quadratische Festung auf, von deren Dach der Union Jack flatterte. Schwarz lackierte Mannschaftswagen der Polizei fuhren über den Burghof, der von winzigen Gestalten wimmelte, bei denen es sich nicht nur um Menschen handelte.
Nathanael wusste, was er da sah, aber er wollte es nicht wahrhaben. »Wo ist Bartimäus?«, fauchte er.
Der Kobold klang müde und dumpf. »Soweit ich weiß, is er da drin. Ich hab seine Spur in der Innenstadt aufgenommen, aber sie war schon kalt und ziemlich schwach. Sie führt zum Tower und näher kommt man da nicht ran, das weißt du selber. Zu gut bewacht. Sogar hier draußen hätten mich fast ein paar Suchkugeln erwischt. Ich bin total erledigt, echt. Sonst noch was?«, setzte er hinzu, als Nathanael nicht reagierte. »Ich muss mich dringend aufs Ohr legen.«
»Nein, nein… das genügt.«
»Das erste vernünftige Wort, das ich heute von dir höre.« Doch der Kobold verblasste nicht. »Wenn er wirklich da drin is, sitzt dieser Bartimäus tierisch in der Tinte«, meinte er vergleichsweise gut gelaunt. »Hast du ihn etwa da hingeschickt?«
Nathanael gab keine Antwort.
»Ach du Schande«, meinte der Kobold. »Wenn das so is, dann würd ich sagen, du steckst mindestens genauso in der Patsche wie er.
Wahrscheinlich spuckt er grade eben deinen Namen aus.« Er entblößte die spitzen kleinen Zähne zu einem breiten Grinsen und verschwand mit verächtlichem Schnauben.
Nathanael blieb mit dem Spiegel in der Hand auf dem Bett sitzen und rührte sich nicht. In der Dachkammer wurde es dunkel.
Bartimäus
24
Wenn man einen ungefähr streichholzschachtelgroßen Skarabäus gegen einen vier Meter großen stierköpfigen Koloss mit einer Silberlanze antreten lässt, darf man keinen fairen Kampf erwarten, schon gar nicht, wenn der Käfer in einer engen Glocke eingesperrt ist, die beim kleinsten Kontakt mit einem unvorsichtigen Fühler seine Substanz einäschert. Natürlich versuchte ich, die Sache so lange wie möglich hinauszuzögern, indem ich, in der unbestimmten Hoffnung, der Lanze ausweichen zu können, ein paar Millimeter über dem Postament auf der Stelle schwirrte,
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