Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
kalten, modrigen Stoff zurückschrak. Sie beobachtete, wie Stanley sich weit vorbeugte, sodass seine Beine einen Augenblick in der Luft zappelten. Gegenüber lehnte Mr Pennyfeather an der Wand und trocknete sich die Stirn. »Es ist nicht mehr viel«, keuchte er. »Dann können wir… herrje, dieser verflixte Junge! Kannst du nicht ein bisschen aufpassen?«
Stanley war, vielleicht vor lauter Überschwang, kopfüber in den Sarg geplumpst und hatte im Fallen seine Laterne weggeworfen. Sie polterte dumpf zu Boden.
»Du Tollpatsch! Wenn du irgendwas kaputtgemacht hast…« Mr Pennyfeather beugte sich prüfend vor, aber im Sarkophag war es zu finster, um etwas zu erkennen. Ab und zu hörte man es rascheln und scheppern. »Steh vorsichtig wieder auf. Dass bloß die Kristallkugel nicht beschädigt wird!«
Kitty rettete die Laterne, die über die Steinfliesen rollte, und schimpfte leise vor sich hin. Stanley war schon immer ein Blödmann gewesen, aber das hier war sogar für seine Verhältnisse eine Glanzleistung. Sie trat mit der Laterne an den Sarg und wollte hineinleuchten, wich jedoch erschrocken zurück, als ganz unerwartet Stanleys Kopf über den Rand schnellte. Die Wollmütze war ihm übers Gesicht gerutscht und verbarg es bis zum Kinn.
»Hoppla!«, sagte er mit hoher, ärgerlicher Stimme. »Nein, was bin ich wieder ungeschickt!«
»Was soll der Quatsch?«, brauste Kitty auf. »Was denkst du dir dabei, mich so zu erschrecken? Das ist nicht lustig!«
»Beeil dich, Stanley«, mahnte Mr Pennyfeather.
»Tut mir furchtbar Leid!« Aber es schien Stanley überhaupt nicht Leid zu tun, denn er zog weder die Mütze hoch, noch kletterte er aus dem Sarg.
Mr Pennyfeathers Laune schlug um. »Wenn du dich nicht sofort in Bewegung setzt, Junge«, schrie er, »kriegst du meinen Stock zu spüren!«
»Bewegen soll ich mich? Aber gern!« Stanley wackelte albern mit dem Kopf wie im Takt einer unhörbaren Musik. Dann duckte er sich zu Kittys Verblüffung wieder, verschwand kurz und ließ erneut mit irrem Kichern den Kopf hochschnellen. Dieses Spielchen schien ihm eine geradezu kindische Freude zu bereiten, denn er wiederholte es unter fröhlichem Juchzen. »Kuckuck!«, rief er mit von der Mütze gedämpfter Stimme, »wo seid ihr?«
»Der Junge ist verrückt geworden«, konstatierte Mr Pennyfeather.
»Stanley! Komm sofort da raus!«, bat Kitty jetzt eindringlich und mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals.
»Ach, ich heiße Stanley?«, fragte der Kopf. »Stanley… hm, gefällt mir, ehrlich. Guter, alter, englischer Name. Würde Mr G auch gefallen.«
Fred war neben Kitty getreten. »He…« Er schien verunsichert, was sonst nicht seine Art war. »Wieso klingt seine Stimme so anders?«
Der Kopf hielt plötzlich inne und neigte sich kokett. »Na, das ist mal eine gute Frage! Bin gespannt, ob einer von euch draufkommt.« Kitty wich beklommen einen Schritt zurück. Fred hatte Recht. Die Stimme hörte sich spätestens jetzt überhaupt nicht mehr nach Stanley an.
»Aber, aber, lauf doch nicht weg, kleines Mädchen!« Der Kopf wackelte heftig hin und her. »Das macht alles nur noch schlimmer. Lass dich doch mal anschauen.« Ein zerschlissener schwarzer Ärmel, aus dem eine Knochenhand ragte, wurde aus dem Sarg gestreckt. Ganz behutsam zogen die Knochenfinger die Wollmütze hoch, bis sie verwegen auf dem Kopf thronte. »So ist’s schon viel besser!«, sagte die Stimme erfreut. »Jetzt können wir einander endlich richtig sehen.«
Unter der Mütze erschien ein goldglänzendes Gesicht mit einem weißen Haarschopf, das eindeutig nicht Stanley gehörte.
Anne heulte auf und rannte zur Treppe. Der Kopf ruckte verwundert herum. »Hier geblieben! Wir wurden einander noch nicht vorgestellt!« Die Knochenhand fischte blitzartig einen Gegenstand aus dem Sarg und schleuderte ihn Richtung Ausgang. Krachend landete die Kristallkugel auf der untersten Treppenstufe, direkt vor Annes Füßen. Sie schrie erschrocken auf, stolperte und fiel hin.
Alle Augen waren dem jähen Flug der Kugel bis zur Landung gefolgt. Jetzt wandte sich die Truppe zögerlich wieder nach dem Sarg um. Dort kam jemand unter einigem Geklapper steif und unbeholfen auf die Füße. Schließlich stand er aufrecht, klopfte sich umständlich den Staub von der Jacke und brabbelte derweil wie ein pedantisches altes Weib vor sich hin: »Nein, wie das wieder aussieht! Da wäre Mr G aber gar nicht erfreut! Überall Löcher, sogar an den intimsten Stellen!«
Dann bückte sich das
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