Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
durch das Trugbild. Die Steine wellten sich nicht einmal. Stand man erst dahinter, sah man sie nicht mehr.
Alle sechs starrten stumm und schockiert auf die beleuchteten Leichen.
»Lasst uns lieber wieder gehen«, sagte Kitty.
»Seht euch die Haare an«, flüsterte Stanley. »Und die Fingernägel. Wie lang die sind!«
»Die liegen da wie die Ölsardinen…«
»Was glaubt ihr, wie das…?«
»Vielleicht sind sie erstickt…«
»Seht mal da… das Loch in seiner Brust! Das ist nicht von allein passiert…«
»Wir brauchen uns nicht zu ängstigen. Die liegen schon ganz lange hier«, sagte Mr Pennyfeather munter, womit er sich selbst wahrscheinlich ebenso beruhigen wollte wie die anderen. »Ihr seht ja, wie dunkel die Haut ist. Sie sind sozusagen mumifiziert.«
»Glauben Sie, die sind noch aus Gladstones Zeit?«, fragte Nick.
»Ganz bestimmt. Dafür spricht auch die Kleidung. Spätes 19. Jahrhundert.«
»Aber… aber das sind ja sechs… für jeden von uns einer…«
»Halt’s Maul, Fred.«
»Aber wieso sind sie dann…?«
»Vielleicht war’s ja eine Art Opfer…?«
»Bitte, Mr Pennyfeather, lassen Sie uns…«
»Aber warum hat man sie dann versteckt? Das ist doch unlogisch.«
»Vielleicht sind es ja Grabräuber? Und zur Strafe hat man sie eingemauert?«
»…bitte lassen Sie uns gehen!«
»Das klingt schon einleuchtender. Trotzdem, warum hat man sie versteckt?«
»Und wer war’s? Und was ist mit der Pestilenz? Das verstehe ich auch nicht. Wenn sie die ausgelöst hätten…«
»Mr Pennyfeather!«, schrie Kitty und stampfte mit dem Fuß auf, dass es von den Wänden widerhallte. Die anderen verstummten. Kitty war die Kehle immer noch eng, aber sie zwang sich weiterzusprechen. »Hier ist irgendwas nicht geheuer! Vergessen wir den Schatz und verschwinden, jetzt sofort!«
»Aber die liegen doch schon ganz lange hier«, imitierte Stanley Mr Pennyfeathers entschiedenen Ton. »Beruhige dich, Mädel.«
»Red nicht so von oben herab, du blöder Kerl!«
»Ich finde, Kitty hat Recht«, sagte Anne.
»Aber meine Lieben!« Mr Pennyfeather tätschelte Kitty mit gekünstelter Freundlichkeit die Schulter. »Ich gebe ja zu, es ist kein hübscher Anblick, aber das wäre dann doch übertrieben. Wie auch immer diese armen Burschen ums Leben gekommen sind, man hat sie vor langer Zeit hierhin gelegt, wahrscheinlich war die Gruft damals noch nicht verschlossen. Deshalb hat auch die falsche Wand, hinter der man sie versteckt hat, keinen Schimmel angesetzt, versteht ihr? Der Schimmel hat sich erst danach ausgebreitet; als sie ihr Schicksal ereilte, waren die Wände noch neu und sauber.« Er deutete mit dem Stock auf die Leichname. »Überlegt doch mal, die Kerle müssen schon hier gelegen haben, bevor man die Gruft verschlossen hat, sonst hätten sie beim Betreten die Pestilenz ausgelöst. Und das kann nicht sein… denn wir mussten uns ja vorhin noch davor schützen.«
Seine Worte dämpften die Aufregung ein wenig, manche nickten, andere brummelten zustimmend. Nur Kitty schüttelte den Kopf. »Hier liegen sechs Leichen und wollen uns etwas sagen. Wir wären schön blöd, wenn wir nicht drauf hören würden.«
»Pfff! Die liegen hier schon ewig!« Die Erleichterung in Freds Stimme ließ darauf schließen, dass ihm eben erst aufgegangen war, was aus dieser Feststellung logischerweise folgte. »Olle Knochen.« Er streckte den Fuß vor und versetzte dem nächstbesten Schädel geringschätzig einen Stups. Der Schädel löste sich vom Hals und kullerte mit leisem Klappern wie von Geschirr ein Stückchen über den Steinboden.
»Meine liebe Kitty, du darfst nicht immer so empfindlich sein«, mahnte Mr Pennyfeather, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. »Den Sarg des alten Satans haben wir immerhin aufbekommen, ohne dass die Gruft über uns eingestürzt ist. Komm und sieh es dir an, Mädchen, du hast ja noch gar keinen Blick drauf geworfen. Obenauf liegt ein seidenes Leichentuch – allein das muss ein Vermögen wert sein. Fünf Minuten, Kitty, wir brauchen höchstens fünf Minuten, um das Tuch zurückzuschlagen und den Geldbeutel und die Kristallkugel herauszuholen. Wir wollen Gladstones Ruhe nicht lange stören.«
Kitty schwieg, drehte sich um und trat durch das Trugbild wieder in den vorderen Teil der Gruft. Sie war kreidebleich vor Wut und traute sich nicht, etwas zu erwidern, aus Angst, dass sie womöglich die Beherrschung verlor. Ihre Wut richtete sich sowohl gegen sich selbst – weil sie so
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