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Bartimäus 02 - Das Auge des Golem

Titel: Bartimäus 02 - Das Auge des Golem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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empfindlich und grundlos ängstlich war – als auch gegen ihren Anführer. Seine Argumente kamen ihr hohl vor, wie billige Beschwichtigungen. Aber sie war es nicht gewohnt, ihm offen zu widersprechen, und der Rest Gruppe stand auf seiner Seite.
    Hinter ihr ertönte das Tapp, Tapp, Tapp von Mr Pennyfeathers Stock. Er war ein bisschen außer Atem. »Meine liebe Kitty, ach bitte, sei doch so gut und… und… nimm du die Kristallkugel. Du siehst… ich vertraue dir rückhaltlos. Noch fünf Minuten müssen wir durchhalten, dann können wir diesen verwünschten Ort ein für alle Mal verlassen. Kommt alle her und haltet die Rucksäcke bereit. Der Schatz will gehoben werden!«
    Der Sargdeckel lag noch genauso da, wie er herabgeglitten war, schräg an den Sarg gelehnt. Am unteren Ende war eine Ecke Marmor abgesprungen und lag etwas weiter weg im Schimmel. Eine Laterne stand auf dem Boden und flackerte fröhlich, aber in den schwarz gähnenden Schrein fiel kein Licht. Mr Pennyfeather trat ans Kopfende, lehnte seinen Stock an den Sarkophag und stützte sich auf den Rand. Er blickte sich lächelnd um und rieb sich voller Tatendrang die Hände.
    »Frederick, Nicholas, hoch mit den Lampen! Ich möchte gut sehen, was ich da drinnen anfasse.« Stanley kicherte nervös.
    Kitty drehte sich noch einmal um. Im Dunkeln konnte sie die falsche Mauer, die ein grausiges Geheimnis barg, nur verschwommen erkennen. Sie atmete tief durch. Wozu sollte das Trugbild bloß dienen? Es wollte ihr einfach nicht einleuchten…
    Sie wandte sich wieder dem Sarg zu. Mr Pennyfeather beugte sich vor, griff vorsichtig hinein… und zog.

31
    Das seidene Leichentuch ließ sich fast geräuschlos herausziehen. Man vernahm ein kaum hörbares Rascheln und eine Wolke aus feinem braunem Staub wie von einem geplatzten Bovist stieg auf. Der Staub wirbelte durchs helle Lampenlicht und senkte sich wieder herab. Mr Pennyfeather raffte das Tuch zusammen und legte es sorgfältig über den Rand, dann erst beugte er sich wieder vor und spähte in den Sarkophag.
    »Lampe tiefer halten«, flüsterte er.
    Nick tat, wie geheißen. Alles reckte gespannt die Hälse.
    »Aaah…«, seufzte Mr Pennyfeather wie ein Feinschmecker an einer festlich gedeckten Tafel, der weiß, dass der Genuss nicht mehr lange auf sich warten lässt, und wie ein Echo ertönte ein Chor aus leisen, erstaunten Ausrufen. Sogar Kitty vergaß für einen Augenblick ihre bösen Ahnungen.
    Sie alle kannten das Gesicht so gut wie ihr eigenes Spiegelbild. Man begegnete ihm in London an allen Ecken und Enden, konnte ihm gar nicht entgehen. Unzählige Male hatten sie es betrachtet, an Standbildern, Denkmälern und auf Wandmalereien. Sein Profil prangte auf Schulbüchern und behördlichen Formularen, leuchtete auf jedem Marktplatz von hohen Plakatwänden. Streng und gebieterisch blickte er von hohen Sockeln auf so gut wie jede Grünfläche und sah ihnen von den zerknitterten Geldscheinen entgegen, die sie aus ihren Hosentaschen kramten. Gladstones Gesicht begleitete sie durch ihren Alltag, war Zeuge all ihrer Sorgen und Wünsche und wachte über ihr unbedeutendes Leben.
    Hier, in der düsteren Gruft, überlief sie ein Schauder, als sie das Gesicht wiedererkannten.
    Dem Anschein nach war es kunstvoll aus hauchdünnem Goldblech gefertigt – eine Totenmaske, wie sie dem Begründer eines Weltreichs gebührte. Ehe die Leichenstarre endgültig eingetreten war, hatten erfahrene Kunsthandwerker einen Abdruck genommen und die Form mit flüssigem Metall ausgegossen. Bei der Bestattung hatte man dem Toten die Maske aufs Gesicht gelegt, ein unverwüstliches Abbild, das für alle Ewigkeit mit blindem Blick ins Dunkel starrte, während der Leichnam darunter allmählich zerfiel. Es war ein Greisengesicht mit Hakennase, schmalen Lippen, eingefallenen Wangen mit angedeuteten Koteletten und unzähligen Falten und Runzeln. Die tief liegenden Augen hatte man leer gelassen und das Goldblech an diesen Stellen durchstoßen, sodass dem Betrachter zwei klaffende Löcher entgegenschauten. Den Jugendlichen, die mit offenem Mund in den Sarg blickten, schien es wie das Antlitz eines vorzeitlichen Herrschers, das sie in seinen schrecklichen Bann schlug.
    Umrahmt wurde die Maske von einem weißen Haarschopf.
    Der Tote lag ähnlich friedlich da wie die Toten hinter dem Trugbild, mit auf der Brust gefalteten Händen. Die Finger waren vollständig skelettiert. Er trug einen schwarzen, geknöpften Anzug, der sich über dem Brustkorb noch spannte,

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