Bartimäus 04 - Der Ring des Salomo
hinunter.
Asmira wusste sehr wohl, dass mächtigere Geister jede beliebige Gestalt annehmen konnten, um ihr Gegenüber zu täuschen oder gefügig zu machen. Im Grunde sagte die Erscheinung eines Geistes überhaupt nichts aus. Dieser Dämon jedoch gab ihr trotzdem zu denken. Anders als die Scheusale von vorhin und auch anders als sein Gefährte – der sich prahlerisch wild gebärdet hatte – verbarg dieser Geist seine Boshaftigkeit hinter einer ansprechenden Erscheinung.
Als er in Asmiras Blickfeld getorkelt war, hatte er einem bärtigen, vom Kampf übel zugerichteten Reisenden geglichen. Doch kurz darauf (sie konnte nicht sagen, wann er sich eigentlich verwandelt hatte) stand ein hübscher junger Mann mit verschmitztem Blick und Grübchen in den Wangen vor ihr. Schwarze Ringellocken fielen ihm in die Stirn, seine Glieder waren gesund und kräftig. Die Gesichtsform und die bräunliche Haut erinnerten Asmira an die Babylonier, die hin und wieder am Hof von Saba auftauchten, aber der Dämon war schlichter gekleidet als jene Männer. Er trug einen einfachen knielangen Wickelrock und mehrere Amethystketten auf der bloßen Brust. Aus dem Rücken sprossen ihm zwei prächtige weiße Flügel, die er jetzt ordentlich angelegt hatte. Die größten Federn waren länger als Asmiras Unterarm. Aus der Spitze des linken Flügels quoll ein Klumpen einer weichen Masse und glänzte im Nachmittagslicht. Das war der einzige Makel seiner Erscheinung.
Asmira betrachtete den geflügelten Jungen mit klopfendem Herzen. Mit einem Mal wandte er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Sie schaute weg und ärgerte sich sofort darüber.
»Hoffentlich kannst du dein Versprechen auch einlösen, Priesterin aus Himjar«, sagte der Junge. »Immerhin habe ich meine Substanz für dich aufs Spiel gesetzt.«
Asmira hatte dem Streitgespräch der beiden Dämonen nicht richtig folgen können, denn sie hatten sich nur teilweise auf Arabisch und teilweise in ihr unbekannten Sprachen unterhalten. Jetzt zwang sie sich, dem gleichgültigen Blick der dunklen Augen zu begegnen, und fragte wieder in herrischem Ton: »Wo ist der andere Dämon hin? Und was ist jetzt mit meiner Bitte?«
Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Oje, schon wieder dieses hässliche Wort.« Er machte einen Schritt auf das Kamel zu. Asmira zückte den Silberdolch.
Der Junge blieb stehen. »Noch einer? Wie viele Dolche hast du denn dabei?«
Einen Dolch hatte Asmira im Kampfgetümmel verloren, ein zweiter stak in dem Edomiten. Zwei weitere verwahrte sie in ihrem Beutel. »Das geht dich nichts an«, sagte sie abweisend. »Ich hatte dich gebeten…«
»Und ich hatte dich gebeten«, unterbrach sie der junge Mann, »in meiner Gegenwart keine unanständigen Ausdrücke zu verwenden. Dolche aus der Unterwäsche zu ziehen, ist übrigens auch nicht besonders höflich.« Er legte seine schlanke braune Hand auf die Flanke des Kamels und tätschelte das Tier. »Wie wär’s, wenn du das Ding wieder wegsteckst? Ich spüre die Eiseskälte des Silbers bis hierher, besonders in meinem verletzten Flügel. In dem Flügel«, fügte er in scharfem Ton hinzu, »der Schaden genommen hat, als ich dir das Leben gerettet habe.«
Asmira zögerte. Sie war vor Unschlüssigkeit wie gelähmt und wurde vor Angst von Übelkeit geschüttelt. Schließlich lüftete sie widerstrebend ihr Gewand und steckte den Dolch wieder in den Gürtel.
»Schon besser«, sagte der Dämon. »Da wäre noch die Silberscheibe an deinem Hals… könntest du die vielleicht auch wegstecken?«
Asmira gehorchte. Der geflügelte Junge schien zufrieden. Er tätschelte das Kamel noch einmal, dann ging er ein Stückchen und ließ den Blick durch die Schlucht schweifen. Nach einer Weile fing er an, ein schwungvolles Derwischlied zu pfeifen.
Asmira war so wütend über ihre eigene Feigheit und die Dreistigkeit des Dämons, dass sie den Dolch am liebsten wieder hervorgezogen und nach seinem Rücken geschleudert hätte. Aber sie beherrschte sich. Der Dämon hatte Verbindung zu Salomo, das konnte ihr noch nützlich sein. Mit seiner Hilfe konnte sie schneller nach Jerusalem gelangen.
Außerdem stimmte es ja – er hatte ihr tatsächlich das Leben gerettet.
»Nimm mir meinen Argwohn nicht übel, o Geist«, rief sie. »Wäre ich unbewaffnet, wäre ich längst tot.«
Der Junge drehte sich um und betrachtete sie abschätzend. »Hast du mit dem Dolch die Utukku verscheucht? Ich habe mich schon gefragt, wie dir das gelungen ist.«
»Ja, mein Dolch war meine
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