Bartstoppelkuesse
von Raketen und Böllern verschont bleiben würde. Mein Nachbar hatte schon am Nachmittag wieder zu hämmern angefangen und hing ab achtzehn Uhr auf seinem Balkon herum, den er mit Lampions und einem zehnteiligen High-Fly-Raketensortiment vom Aldi in eine Oase der Pyrotechnik verwandelt hatte. Letztes Jahr war ihm die Glut seiner Zigarettenkippe in eine Tüte mit Chinaböllern und Kanonenschlägen gefallen und seine Frau hatte schnell die Balkontüre zugemacht, weil sie Angst um ihren neuen Wohnzimmerteppich hatte. So stand der Idiot auf dem Balkon und klopfte wie wild an die Scheibe, während alle anderen drinnen weiterfeierten und tierisch Spaß hatten an dem auf und ab springenden Feuerteufel. Die bösen Geister hatte er so mit einem Rutsch auf Nimmerwiedersehen vertrieben. Es war noch früh am Tag, er würde das bestimmt noch toppen können!
Draußen auf den Straßen herrschte fröhliches Treiben. Eine ganze Frauengruppe grölte und kicherte unten vor dem Haus. Die hatten wohl schon zu viel Eierlikör gepichelt. Alle schienen ein typisches Silvester zu haben, nur ich nicht. Typisch wäre gewesen, dass die kleine Familie, also Eltern und Kinder, vielleicht mit ein zwei Freunden oder Nachbarn zuhause bis zwölf aßen, fern sahen et cetera, und dann runter zählten und anstießen.
Da war dieses üble Feeling wieder.
Kurz vor zwölf war ich wider alle Erwartungen fast nüchtern, hatte nur drei Gläser Rotwein getrunken und harrte dem Jahreswechsel entgegen. Fünf Minuten vor zwölf klingelte es an der Tür und mein Wohnungsnachbar mit dem Goldkettchen rief voreilig schon Happy New Year und fiel mir um den Hals. Mein Blick fiel in seinen Windschatten, in dem sich meistens seine durch geknallte Blondmatratze befand. Leere. Im Bruchteil einer Zehntelsekunde registrierte ich, dass er an Silvester genauso allein war wie ich. Er hatte schon reichlich getrunken und verhaspelte sich andauernd. Sein Lispeln war entzückend. Ich war gut einen Kopf kleiner als er, und als er mir seine verführerischen Lippen darbot, konnte ich nicht widerstehen. Warum hätte ich auch sollen?
Mitternacht. Endlich!
Jubel, Erleichterung, Menschen lagen sich in den Armen. Das neue Jahr war da!
Mein Nachbar zog mich durchs Treppenhaus hinunter i n den Innenhof und sprang aufgeregt zwischen den Anwohnern und den Kahlgeschorenen hin und her, die mir immer noch nicht ganz grün waren wegen Janas Vibrator. Mein Nachbar begrüßte jeden einzelnen Anwesenden persönlich mit Handschlag und Bussi-Bussi, Smalltalk und freundlichem Lächeln.
Mich zog er mit seinem dämlichen Grinsen hinter sich her und ich hoffte inständig, dass diese Bundesfeier endlich ein Ende hatte, oder zumindest einer der Geister, die von der Pyrotechnik verschont geblieben waren, mich als Quintessenz des Bösen einfach verschlingen würde.
ER stand angelehnt am Geländer zur Kellertreppe und sah mir durch die Menschenmenge entgegen. Stefan sah aus wie ein nachtschwarzer Prinz im Schnee. Er wirkte so lässig, so wahrhaftig. Er beobachtete das Treiben im Innenhof und lächelte mich an, als ich ihn bemerkte. Ich wollte mich nicht mehr über ihn ärgern, wollte so viel von Stefan wissen... die Jahre aufsaugen. Ich wollte reden.
Er kam langsam auf mich zu, blieb vor mir stehen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, ein ironisches Leuchten in den Augen, dazu sein examinierender Blick, intensiv und durchdringend.
„Wollte eigentlich nur mal hallo sagen“, flüsterte er in den nächtlichen Trubel kaum hörbar hinein. Er strahlte Wärme und Liebenswürdigkeit aus, wie ich sie lange so nicht mehr in meinem Leben gesehen hatte.
„Alles Gute für das neue Jahr wünsche ich dir, Scarlett.“
„Dir auch, Stefan.“
In diesem Momen t rammte mich mein Goldkettchennachbar lallend an und schrie in einem merkwürdigen Singsang: „Ich bin der Allerschönste. Ich bin der Allerschönste!“
Dann krallte er seine Fingernägel in meinen Nacken und steckte mir seine Zunge in den Hals. Sie schmeckte nach Whiskey und frisch Erbrochenem. Ich wurde kreidebleich und stieß ihn angewidert von mir. Stefan drehte sich auf dem Absatz um und kehrte dieser absurden Szenerie den Rücken zu.
Ich lief hinter ihm her und packte ihn am Arm.
„Bitte, Stefan, lass uns reden, bleib’ hier.“
„Denk’ du erst mal über dein verkorkstes Liebesleben nach, Scarlett. Dein Selbsterhaltungstrieb hängt wohl immer noch ganz eng mit deiner Libido zusammen!“
Stefan musterte mich zwei Sekunden mit einem
Weitere Kostenlose Bücher