Bastard
Aufenthalt in fensterlosen Räumen aus Beton und Stahl unbeschadet überstanden. Vieles davon ist genetisch, ein ererbter Überlebenswille
in einer Familie, in der es so tragisch zugegangen ist wie in einer Oper von Verdi. Die Scarpettas stammen von robusten Norditalienern mit ausgeprägten Gesichtszügen, heller Haut, blondem Haar und kräftigen Muskeln und Knochen ab, mit Körpern, die sich hartnäckig dem Leid und auch dem Raubbau durch Laster widersetzen, die mir die meisten Menschen niemals zutrauen würden. Allerdings kann ich diese Neigungen nicht leugnen, die Schwäche für Essen, Trinken und alles Körperliche, ganz gleich, wie zerstörerisch es auch sein mag. Ich sehne mich nach Schönheit und habe tiefe Gefühle, bin allerdings auch ein wenig aus der Art geschlagen. Ich kann gnadenlos und herrschsüchtig sein, unbeweglich und starr, angelernte Verhaltensweisen, die für mich überlebenswichtig sind. Sie wurden weder mir noch jemandem in meiner aufbrausenden und zu Dramen neigenden Familie in die Wiege gelegt. So viel weiß ich über meine Herkunft. Was den Rest angeht, bin ich mir nicht so sicher.
Meine Vorfahren waren Bauern oder arbeiteten bei der Eisenbahn. Doch in den letzten Jahren hat meine Mutter Künstler, Philosophen, Märtyrer und alle möglichen anderen Exoten in den Familienstammbaum aufgenommen, denn sie treibt jetzt Ahnenforschung. Wenn man ihr glauben kann, bin ich ein Nachkomme der Handwerker, die den Hochaltar, das Chorgestühl und die Mosaiken in der St.-Markus-Basilika und das Deckenfresko in der Chiesa dell’Angelo San Raffaele geschaffen haben. Außerdem habe ich einige Pater und Mönche unter meinen Ahnen und bin seit kurzem – basierend auf Fakten, die ich nicht kenne – entfernt mit dem Maler und Mörder Caravaggio sowie über drei Ecken mit Giordano Bruno verwandt, der zur Zeit der Inquisition in Rom wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Meine Mutter wohnt noch immer in ihrem kleinen Haus in Miami und hat sich der Aufgabe verschrieben, aus mir schlau
zu werden. Ihres Wissens nach bin ich die einzige Medizinerin in der Familie, und sie begreift nicht, warum ich mich für Patienten entschieden habe, die bereits tot sind. Weder meine Mutter noch meine einzige Schwester Dorothy haben eine Vorstellung davon, wie stark ich von einer schweren Jugend geprägt bin, die hauptsächlich daraus bestand, einen sterbenskranken Vater zu pflegen und anschließend im Alter von zwölf Jahren die Verantwortung für unseren Haushalt zu übernehmen. Also bin ich sowohl von meiner Vorgeschichte als auch von meiner Ausbildung her sozusagen Expertin für Leid und Schmerz. Und aus unerklärlichen Gründen ende ich stets als Leitfigur oder als Sündenbock. Ausnahmslos.
Ich schließe die Tür des Zimmers, das nicht nur sechs Monate lang, sondern eigentlich länger mein Zuhause gewesen ist. Briggs ist es gelungen, mich daran zu erinnern, woher ich komme und wohin ich will. Es ist ein Weg, der schon lange vor dem vergangenen Juli vorgezeichnet worden ist. Er begann bereits im Jahr 1987, als ich erkannte, dass ich in den Staatsdienst wollte, und nicht wusste, wie ich die während des Medizinstudiums angehäuften Schulden abbezahlen sollte. Und so habe ich zugelassen, dass eine Banalität wie Geld und ein Laster wie Ehrgeiz alles unwiederbringlich veränderten, und zwar nicht zum Guten, nein, vielmehr zum Allerschlechtesten. Doch ich war jung und idealistisch. Ich war stolz und wollte mehr, ohne zu ahnen, dass mehr für einen unersättlichen Menschen stets weniger ist.
Da ich die Klosterschule ebenso wie Cornell und die Juristische Fakultät der Georgetown University mit einem Vollstipendium besuchen durfte, hätte ich unbelastet von Kreditverpflichtungen ins Berufsleben eintreten können. Aber ich lehnte das Angebot der Bowman Gray School of Medicine ab, weil ich unbedingt an der Johns Hopkins University studieren wollte. Noch nie zuvor hatte ich mir etwas so gewünscht, und
da ich das Studium ohne jegliche finanzielle Unterstützung aufnahm, stand ich nach dem Abschluss vor einem astronomischen Schuldenberg. Meine einzige Rettung war ein Stipendium des Militärs, mit dem sich auch einige meiner Kommilitonen, wie vor mir Briggs, über Wasser gehalten hatten. Ich lernte ihn in den Anfangstagen meiner beruflichen Laufbahn kennen, als man mich dem Pathologischen Institut der Streitkräfte zuteilte. Briggs wiegte mich in dem Glauben, ich könne in aller Seelenruhe im Walter Reed Army
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