Bastard
leidenschaftlich, dass sie bedrohlich wirkt. Ganz gleich, ob meine Nichte ausgelassen oder höflich ist, sie neigt dazu, andere einzuschüchtern, und hat deshalb nur wenige Freunde außer Marino. Ihre Liebesbeziehungen halten nie lange. Nicht einmal die mit Jaime Berger, obwohl ich meinen Verdacht noch nicht ausgesprochen habe. Ich habe nicht nachgefragt, doch ich nehme Lucy die Geschichte nicht ab, dass sie aus finanziellen Gründen von New York nach Boston gezogen ist. Selbst wenn es mit ihrem auf Computerermittlungen spezialisierten Unternehmen bergab ging, was ich auch nicht glaube, hat sie in Manhattan um einiges mehr verdient als das klägliche Gehalt, das mein Institut ihr bezahlt. Meine Nichte arbeitet quasi ehrenamtlich für mich. Sie hat das Geld nicht nötig.
»Was war mit dem Satellitenradio?« Ich beobachte sie aufmerksam und versuche, ihre wie immer unterschwelligen und widersprüchlichen Signale zu deuten.
Kapseln klappern, als sie nachprüft, wie viele Advils noch
in dem Döschen sind. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich das Einpacken angesichts der geringen Menge nicht lohnt, und wirft die Kopfschmerztabletten in den Papierkorb. »Eine Schlechtwetterfront zieht auf. Deshalb möchte ich so schnell wie möglich verschwinden.« Sie öffnet ein Döschen Zantac und entsorgt es ebenfalls. »Wir können uns unterwegs unterhalten. Außerdem brauche ich deine Hilfe als Copilotin, weil wir es auf dem Flug mit Schneeschauern und Eisregen zu tun bekommen werden. Zu Hause ist ein halber Meter Schnee angesagt. Gegen zehn soll es anfangen zu schneien.«
Mein erster Gedanke gilt Norton’s Woods. Ich muss dem Fundort unbedingt einen Besuch abstatten, doch bis ich dort bin, wird alles verschneit sein. »Wie dumm«, antworte ich. »Wir haben nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach einen Tatort, der nie als solcher untersucht worden ist.«
»Ich habe die Polizei von Cambridge heute Morgen gebeten, sich noch einmal umzuschauen.« Marinos Blick gleitet neugierig durch den Raum, als wäre es mein Zimmer, das durchsucht werden müsste. »Sie haben nichts gefunden.«
»Haben sie dich gefragt, warum sie überhaupt suchen sollten? « Wieder die Besorgnis.
»Ich habe erklärt, wir hätten noch Zweifel, und alles auf die Glock geschoben. Die Seriennummer wurde abgefeilt. Ich glaube, das habe ich dir noch nicht erzählt«, fügt er hinzu, sieht sich um und betrachtet alles außer mir.
»Im Waffenlabor können sie versuchen, die Seriennummer mit Säure wieder sichtbar zu machen. Wenn alles scheitert, probieren wir es mit dem Großkammer-Rasterelektronenmikroskop«, entgegne ich. »Falls noch Spuren vorhanden sind, finden wir sie. Außerdem werde ich Jack bitten, nach Norton’s Woods zu fahren und alles unter die Lupe zu nehmen.«
»Klar, und er wird sich bestimmt gleich an die Arbeit machen«, höhnt Marino.
»Er kann fotografieren, ehe es zu schneien anfängt«, spreche ich weiter. »Oder ein anderer erledigt das. Wer hat denn Dienst …?«
»Zeitverschwendung«, gibt Marino zurück. »Von uns war gestern niemand da. Deshalb wissen wir nicht einmal, wo genau die verdammte Stelle ist – nur, dass es neben einem Baum und einer grünen Bank passierte. Sehr hilfreich bei zweieinhalb Hektar Grund, wo es von Bäumen und grünen Bänken nur so wimmelt.«
»Was ist mit Fotos?«, frage ich, während Lucy weiter die Salben, Schmerzmittel, Magentabletten, Vitamine, Augentropfen und Handdesinfektionsmittel aus meiner kleinen Hausapotheke durchgeht und sie auf dem Bett ausbreitet. »Die Polizei muss doch Fotos von der Leiche am Fundort angefertigt haben.«
»Ich warte noch immer darauf, dass der Detective sie mir zukommen lässt. Der Typ, der als Erster am Fundort war, hat die Pistole heute Morgen im Labor abgegeben. Lester Law, genannt Les Law. Auf der Straße heißt er nur Lawless – der Gesetzlose –, wie schon sein Vater und Großvater vor ihm. Die Polizisten von Cambridge können ihren Stammbaum bis zur bescheuerten Mayflower zurückverfolgen. Bin ihm bis jetzt noch nicht begegnet.«
»Ich denke, das wär’s.« Lucy steht vom Bett auf. »Vielleicht solltest du dich vergewissern, dass ich nichts vergessen habe«, meint sie zu mir.
Papierkörbe quellen über, gepackte Taschen sind an der Wand aufgereiht, die Schranktür steht weit offen. Bis auf die Kleiderbügel ist der Schrank leer. Computerausrüstung, Ausdrucke, Zeitschriftenartikel und Bücher sind von meinem Schreibtisch verschwunden. Es ist nichts im
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