Bastard
Marino spricht mit mir, als wäre Benton nicht vorhanden. Er richtet das Wort nur an mich, als führte er hier das Kommando und wollte nichts mit meinem Mann, dem ehemaligen oder derzeitigen FBI-Agenten, zu tun haben. »Was, wenn so was deinem Sohn passiert wäre?«
»Ich stimme zu, dass wir sie identifizieren und ihren Angehörigen Bescheid geben müssen«, entgegne ich.
»Und dann werden wir wahrscheinlich verklagt«, überlegt Marino laut. »Also sollten wir es vielleicht doch lieber für uns behalten. Für uns ist nur wichtig, die Herkunft zu kennen. Warum die Familien informieren und eine Lawine lostreten?«
»Vollständige Offenlegung«, meint Benton. Ausgerechnet er, als ob er wirklich wüsste, was das ist. Er wirft einen Blick auf sein iPhone und liest eine Nachricht. »Schon allein deshalb, weil viele vermutlich ohnehin schon im Bilde sind«, fügt er hinzu. »Wir nehmen an, dass Fielding sich für seine Dienste im Voraus hat bezahlen lassen. Es lässt sich also nicht vertuschen.«
»Das werden wir auch nicht tun«, erwidere ich. »Bei uns wird nichts vertuscht, und damit basta.«
»Also eines sage ich dir. Ich finde, wir sollten wirklich Kameras in der Kühlkammer anbringen. Nicht nur draußen auf dem Flur und in der Ladezone, sondern im Raum selbst«, wendet sich Marino an mich, als ob er schon immer die Auffassung vertreten hätte, dass Kameras in der Kühlkammer und sicher auch im Gefrierschrank notwendig seien. Allerdings hat er so etwas noch nie zuvor erwähnt. »Ich frage mich,
ob Kameras in einer Kühlkammer überhaupt funktionieren würden … «, fährt er fort.
»Draußen funktionieren sie ja auch. Im Winter ist es hier kälter als in der Kühlkammer«, merkt Benton mit matter Stimme an. Er hört Marino, der vor Selbstbewusstsein strotzt und ganz in seiner Rolle in diesem Drama aufgeht, kaum zu. Marino hat Fielding noch nie leiden können. Ich hab’s dir ja gleich gesagt , strahlt seine ganze Haltung aus.
»Nun, wir sollten es tun«, meint Marino zu mir. »Wenn wir erst Kameras haben, ist Schluss mit diesem Mist, und keiner, der so etwas abzieht, kommt ungeschoren davon.«
Ich drehe mich zu den Stiefeln und Schuhen um, die in Reih und Glied vor dem Eingang des Anbaus stehen. Dem Haus des Todes, der Samenbank. Einige Polizisten nennen ihn auch das Horrorkabinett.
»Kameras«, höre ich Marinos Stimme, während ich den Anbau betrachte. »Wenn in der Kühlkammer welche wären, hätten wir alles auf Band. Ach, Mist, vielleicht ist es ja besser so. Stell dir nur vor, was passiert, wenn der Scheiß irgendwie nach außen dringt und bei YouTube landet. Das, was Fielding mit all den Leichen gemacht hat. Mein Gott. Ich wette, dass ihr in Dover solche Kameras habt.«
Er reicht uns zusammengefaltete Overalls, wie er einen trägt.
»In Dover habt ihr doch sicher Kameras in den Kühlkammern, oder?«, spricht er weiter. »Das Verteidigungsministerium würde bestimmt Kohle dafür lockermachen. Und der Zeitpunkt ist günstig, mal nachzufragen, oder? Angesichts der Umstände halte ich nichts für übertrieben, wenn es darum geht, die Sicherheitsvorkehrungen in unserem Laden aufzupeppen …«
Ich stelle fest, dass Marino noch immer mit mir redet. Aber ich antworte nicht, weil ich über den Insassen des Führerhauses
des Transporters nachgrüble. Während ich draußen in Kälte, Wind und grellem Sonnenlicht stehe, werde ich plötzlich von Mitleid ergriffen. Benton steigt bereits in seinen Schutzanzug; ich habe meinen noch zusammengefaltet unter dem Arm.
Marino plappert fröhlich weiter, als würden wir uns hier für den Karneval verkleiden. »… wie ich schon sagte, gut, dass es kalt ist. Nicht auszudenken, bei dreißig Grad an so einem Fall arbeiten zu müssen, wie damals in Richmond, als man das Wasser aus der Luft wringen konnte und sich kein Lüftchen geregt hat. Was für eine elende Sauerei. Schau bloß nicht ins Klo. Da wurde wahrscheinlich zum letzten Mal runtergespült, als die hier noch Hexen verbrannt haben …«
»Sie wurden erhängt«, höre ich mich sagen.
Marino sieht mich verständnislos an. Sein breites Gesicht, seine Nase und seine Ohren sind rot angelaufen. Der Helm sitzt auf seinem kahlen Schädel wie der Deckel auf einem Feuerhydranten.
»Wie geht es ihm?« Ich weise auf das Führerhaus.
»An Anne ist ein Dr. Dolittle verlorengegangen. Wusstest du, dass sie eigentlich Tierärztin werden wollte, bevor sie beschlossen hat, in Madame Curies Fußstapfen zu treten?« Er spricht
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