Bastard
bevor er ihr einen Brief überbrachte, hat seinen Auftrag von der Zentrale erhalten. Laut Aussage der dortigen Mitarbeiter hat niemand, der in diesem exklusiven Fuhrunternehmen tätig ist, die angebliche Mrs. Donahue jemals
gesehen oder mit ihr telefoniert. In der die Online-Reservierung begleitenden Nachricht wurde ein »ausgefallenes Luxusfahrzeug« für einen »Auftrag« verlangt und hinzugefügt, weitere Anweisungen und ein Brief würden später in der Firmenzentrale abgegeben werden. Gegen sechs Uhr abends wurde dann ein brauner Umschlag durch den Briefschlitz in der Eingangstür geschoben. Etwa vier Stunden später erschien dann der Fahrer mit dem Brief am Hanscom Field und kam zu dem Schluss, dass Benton Dr. Scarpetta sein musste.
Wir steigen aus und stehen in der kalten, sauberen Luft. Die Sonne bringt das Eis zum Funkeln, so dass man sich fühlt wie in einem Kronleuchter aus Kristall. Ich halte mir schützend die Hand vor Augen und beobachte das dunkelblaue Meer, das sich ausdehnt und zusammenzieht wie ein Muskel und in Richtung Küste drängt, um sich gegen ein felsiges, unbewohntes Ufer zu werfen. Genau von diesem Punkt aus hat einst der Schiffskapitän die Aussicht bewundert, die sich seitdem inzwischen kaum verändert hat: viele Hektar schroffer Küste und Strand, wo hin und wieder ein Hain aus Hartholzbäumen steht, eine unberührte Landschaft, wo niemand wohnen darf, weil sie zu einem Naherholungsgebiet mit Bootsanlegestelle gehört.
Ein Stück weiter, jenseits des Campingplatzes, wo die Halbinsel am Salem Harbor mündet, gibt es eine Werft, wo die Polizei heute Morgen Fieldings sieben Meter langes Mako aufgedockt unter einer Plane gefunden hat. Undeutlich erinnere ich mich daran, dass er ein Boot zum Tauchen besitzt, weil er es irgendwann einmal erwähnt hat, doch ich wusste nicht, wo es liegt. Vor vierundzwanzig Stunden hätte ich mir nicht träumen lassen, dass es je ins Zentrum der Ermittlungen in einem Mordfall rücken würde. Dasselbe gilt für seinen dunkelblauen Navigator, bei dem das vordere Kennzeichen fehlt, die Glock mit der entfernten Seriennummer oder sonst
etwas, das Fielding im Lauf seines Lebens getan oder besessen hat.
Über uns schwebt ein orangefarbener Helikopter, ein Eurocopter HH-65A Dolphin, im kalten blauen Himmel. Sein gekapselter zehnflügeliger Heckrotor erzeugt ein unverkennbares Geräusch, das angeblich zu weniger Lärmbelastung führt. Für mich jedoch klingt es wie ein bedrohliches Surren, das mich ein wenig an eine C-17 Globemaster erinnert. Das Ministerium für Heimatschutz führt, wie man mir ebenfalls mitgeteilt hat, eine Luftüberwachung durch. Ich weiß nicht, warum eine Bundesbehörde auftritt, sofern nicht die Sicherheit des Salem Harbor auf dem Spiel steht, der ein wichtiger Hafen ist. Außerdem steht dort ein großes Kraftwerk. Benton und auch Marino, mit dem ich vor einigen Minuten telefoniert habe, haben beiläufig das Wort Terrorismus fallenlassen. Allerdings höre ich das in letzter Zeit häufig. Bioterrorismus. Chemieterrorismus. Inlandsterrorismus. Industrieterrorismus. Nanoterrorismus. Technoterrorismus. Eigentlich ist bei genauerer Betrachtung heutzutage alles Terrorismus. Genauso wie jedes Gewaltverbrechen mit Hass zusammenhängt und deshalb eigentlich ein Hassverbrechen ist.
Otwahl lässt mich einfach nicht los. Alles führt mich dorthin zurück. Meine Gedanken werden von den Schwingen eines Flybots getragen. Dann fällt mir MORT, mein alter Unglücksbote, ein. Er steht als lebensgroßes Modell in einer Wohnung in Cambridge, die Eli Goldman gemietet hat. Im nächsten Moment sorge ich mich um den umstrittenen Wissenschaftler Dr. Liam Saltz, der sicher völlig verzweifelt ist. Vielleicht ist er einfach nur Opfer eines der grausigen Zufälle geworden, die das Leben nun einmal so mit sich bringt, und hatte das tragische Pech, der Stiefvater eines genialen jungen Mannes zu sein, der in fragwürdige wissenschaftliche Experimente und den Handel mit gefährlichen Drogen hineingeraten
war und eine nicht registrierte Waffe bei sich hatte.
Eines jungen Mannes, dem die eigene Klugheit das Genick gebrochen hat, um mit Benton zu sprechen. Als er ermordet wurde, trug er einen antiken Siegelring, der aus Erica Donahues Haus verschwunden ist, ebenso wie ihr Briefpapier, ihre Schreibmaschine und ihr Füllfederhalter, alles Dinge, die Fielding irgendwie an sich gebracht haben muss. Offenbar hat er von dem reichen Harvard-Studenten, den er unter Druck gesetzt hat,
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