Bastard
herrscht, als es bei lebenden Patienten zu verantworten wäre. »Es war nicht meine Idee, dass Janelle und die anderen von zu Hause aus arbeiten sollen«, fügt Marino hinzu.
Ich frage nicht, wie lange das schon so geht und wer »die anderen« sind. Wer ist sonst noch zu Hause geblieben? Immerhin ist das hier eine Regierungsbehörde, eine paramilitärische Einrichtung, keine Klitsche, die Heimarbeit vergibt, würde ich am liebsten sagen.
»Zum Teufel mit Fielding«, murmelt Marino. »Er vermasselt alles.«
Ich antworte nicht. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu erörtern, wie alles hier den Bach runtergeht.
»Ihr wisst, wo ich bin.« Lucy schlendert zum Aufzug und drückt mit dem Ellbogen auf den Knopf, der so überdimensional ist, dass man nicht die Hände benutzen muss. Während sie hinter Schiebetüren aus Edelstahl verschwindet, fahre ich mit dem Daumen über einen weiteren biometrischen Sensor, worauf sich das Schloss entriegelt.
Im Kontrollraum sitzt der forensische Radiologe Dr. Oliver Hess an seinem Arbeitsplatz hinter einer mit Blei verkleideten Glasscheibe. Sein graues Haar ist zerzaust, und seine Miene wirkt schlaftrunken, als hätte ich ihn aus dem Bett geholt. Hinter ihm bemerke ich durch die offene Tür die eierschalenfarbene Somatrom Sensation von Siemens und höre den Ventilator ihrer Wasserkühlung. Das Gerät ist eine
vereinfachte Version des Apparats, der in Dover verwendet wird, und mit einer Kopfstütze und Gurten ausgestattet. Die Verkabelung unter der Oberfläche ist versiegelt, der Tisch mit einer schweren Plane aus Vinyl bedeckt, um die viele Millionen Dollar teure Elektronik vor Verschmutzung zum Beispiel durch Körperflüssigkeiten zu schützen. Das Gerät steht in einem leichten Winkel zur Tür, was das Hinauf- und Herunterheben von Leichen erleichtert. Anne Mahoney, die medizinisch-technische Assistentin, ist gerade damit beschäftigt, Röntgenstrahlen abweisende Markierungen an der Haut des Toten aus Norton’s Woods anzubringen. Ich bekomme beim Eintreten ein seltsames Gefühl. Der Mann ist mir vertraut, obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen habe und ihn nur von Aufnahmen auf einem iPad kenne.
Mir fallen der Farbton seiner hellbraunen Haut und seine schmalen Hände auf, die seitlich auf dem blauen Einweglaken liegen. Die langen, schlanken Finger sind leicht gekrümmt und zeigen Anzeichen von Leichenstarre.
In den Videoaufnahmen habe ich seine Stimme gehört und einen Blick auf seine Stiefel und seine Kleidung erhaschen können. Sein Gesicht ist mir fremd. Ich bin nicht sicher, was ich mir vorgestellt habe, aber seine zarten Gesichtszüge, das lange, lockige braune Haar und der Hauch von Sommersprossen auf seinen glatten Wangen wirken ein wenig verstörend auf mich. Als ich das Laken zurückschlage, stelle ich fest, dass er sehr schlank ist, etwa eins achtzig groß, höchstens sechzig Kilo wiegt, und außerdem kaum Körperbehaarung aufweist. Er könnte mühelos für sechzehn durchgehen, und ich muss an Johnny Donahue denken, der nicht viel älter ist. Jugendliche. Könnte das eine Gemeinsamkeit sein? Oder liegt die Lösung des Rätsels vielleicht bei Otwahl Technologies?
»Etwas gefunden?«, frage ich Anne, eine unscheinbare
Frau Mitte dreißig mit struppigem braunem Haar und einfühlsamen haselnussbraunen Augen. Wahrscheinlich ist sie meine tüchtigste Mitarbeiterin. Sie hat alles im Griff, seien es nun die verschiedenen Methoden der radiographischen Bildgebung oder das Assistieren im Autopsiesaal beziehungsweise am Tatort. Sie ist sich für nichts zu schade.
»Das hier. Es ist mir beim Ausziehen aufgefallen.« Ihre in Latex gehüllten Hände umfassen die Leiche an Taille und Hüfte und drehen sie zur Seite, so dass ich eine winzige Verletzung links am Rücken, etwa in Nierenhöhe, erkenne. »Wurde offenbar am Tatort nicht bemerkt, weil es nicht geblutet hat, zumindest nicht viel. Sie wissen ja über seine Blutungen Bescheid. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, als ich ihn heute Morgen röntgen wollte. Er hat kräftig aus Mund und Nase geblutet, nachdem man ihn im Leichensack abtransportiert hatte.«
»Deshalb bin ich ja hier.« Ich hole eine Lupe aus einer Schublade. Im nächsten Moment erscheint Benton mit Mundschutz, Kittel und Handschuhen neben mir. »Er hat eine Verletzung«, meine ich zu ihm, während ich mich dicht über den Toten beuge und durch die Lupe eine Wunde mit unregelmäßigen Rändern betrachte, die an ein kleines Knopfloch erinnert. »Eindeutig
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