Bator, Joanna
just dieser Mantel fehlen, der an den Ellbogen
und am Hintern schon ein bisschen durchgescheuert ist. Über zwanzig Jahre
lagerte das Album dort wie ein gut erhaltenes Fossil, bis Dominika es eines
Tages fand. Mit einer Taschenlampe, geschenkt von Onkel Kazik im Gegenzug für
ein Hoppe-Hoppe-Reiter-Spiel, das sie gar nicht mochte. Mit dieser Taschenlampe
also, an der man die Farbe des Lichts verstellen konnte, indem man ein gelbes,
grünes oder — was ihr am besten gefiel - rotes Scheibchen über die Birne
schob, drang sie in das nach Mottenpulver, verwehten Parfüms und Schweiß
riechende Innere des Schranks ein. Sie zog die Tür hinter sich zu und aß
Zucker, den Haiina dort in einem Leinenbeutel für eventuelle Notzeiten
verwahrte. Wenn es einmal Not gegeben hatte, konnte sie auch wiederkommen, wer
gab ihr die Sicherheit, dass das nicht so sein würde? Und dann war es besser,
ein Säckchen Zucker und ein paar Zloty im Schrank versteckt zu haben, das würde
jeder Vertriebene bestätigen. Im Licht der Taschenlampe wurden die im Dunkel
schlafenden Krawattenschlangen von Opa Wladek sichtbar, den Dominika nie
gekannt hatte, die leeren Umrisse von Mänteln, Kleidern und Jacken, die keinem
passten, die Augen von Fuchsstolen, wachsam und hart wie Bonbons. Der Finger
tauchte immer und immer wieder in den Beutel mit Zucker und wurde davon weich
und zart wie Wildleder, wie das Ohrläppchen ihrer Schwester, sie hätte
lutschend einschlafen können, wenn sie mit dem Rücken nicht an etwas Hartes
gestoßen wäre. Und so erblickten die Gesichter der Alten aus dem Zug, die
Haiina hatte vergessen können, wieder das helle Licht des Tages, und Oma
Kolomotive sah sich gezwungen, Dominikas Neugier zu befriedigen, denn mit ihrem
wunden Fingernagel zeigte sie auf die Fotogesichter und fragte: Wer ist das
denn?
Das Betrachten des Albums wurde zu
einem Spiel für Enkelkind und Oma. Zum Ritual gehörte, dass Erstere darum bat
und Letztere so tat, als sei sie nur unwillig dazu bereit, indem sie die Augen
verdrehte und seufzte: Na gut, du kleiner Quälgeist. Sie setzen sich
nebeneinander an den Tisch. Haiina schiebt die Vase mit dem künstlichen Flieder
beiseite, damit er nicht im Licht steht, Paulinka schielt vom Fernseher
herüber, und Dominika blättert die Seiten des Albums um — nie ohne vorher den
Finger befeuchtet zu haben - und fragt: Wer ist das denn? Haiina nimmt sich
eine Zigarette, lässt das Feuerzeug schnappen und macht einen ganz tiefen Zug.
Das sind dein Urgroßvater und deine Urgroßmutter auf ihrer Hochzeit. Haiinas
Fingernagel zielt auf die Brust des Urgroßvaters, auf die Korsage der
Urgroßmutter. Das hab ich dir doch schon gesagt, Leokadia Großherr, geborene
Reich, jeder hat sie Leosia genannt. In einem großen schönen Herrenhaus haben
sie gewohnt. Gutsherren wohnen so, für Gutsherren ist das normal, dass es nicht
so ist wie in einer Kate, sie haben Fußböden und Standuhren, Essen in Hülle und
Fülle, und du solltest mal sehen, was sie alles in Kisten und Kasten hatten,
wieviele Vorräte. Für hundert Jahre genug! Hatten sie auch Kleider für kleine
Mädchen? Und ob, wie sollten sie keine Kleider für kleine Mädchen haben, in jeder
Truhe mindestens zweihundert, rosa, hellblau, geblümt. Auch mit Spitze? Auch
mit Spitze, mit Puffärmeln, und sogar bodenlang, dunkelrot, veilchenblau, lila.
Und Schuhe? Die Schuhe sind in anderen Kasten, aus rotem Chinaholz, was die
Juden aus dem Ausland gebracht haben, um damit zu handeln. Handele, Handele!
haben sie gerufen und verkauft. Und in den Kasten von den Juden sind goldene
und silberne Schuhe, mit Schnallen. Für zum Tanzen? Aber klar für zum Tanzen,
goldene Schuhe sind zum Tanzen besser als alle anderen. In solchen Herrenhäusern
gibt es Bälle und Jagdgesellschaften, und schau mal hier: Haiina klopft mit dem
Fingernagel auf das Foto einer schönen Frau, die vor einer Säule posiert: Guck
mal hier, ein Kleid bis zum Boden, hab ich es nicht gesagt, dass sie Kleider
haben, die so lang sind, dass sie über den Boden schleifen? Und hier, was ist
das? Da siehst du Tante Teofila, sie hatte Haare bis zu den Kniekehlen. Sie hat
einen Offizier in Uniform geheiratet. Das waren Haare, sag ich dir, wie aus
Gold. Und die Tante Teofila, was ist die? Teofila, geborene Reich, denn sie ist
die Schwester von Frau Leosia. Sie ist zu den Großherrs zu Besuch gekommen,
immer im Herbst ist sie gekommen, wegen der frischen Luft. Ich bin gekommen,
um frische Luft zu schöpfen und Sahne zu
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