Bator, Joanna
Nervosität noch
steigert. Hochgradige Nervosität ist bei ihr ein Dauerzustand, die Schüler
haben zwar nichts zu sagen, aber Einfluss auf das Gemüt von Magister Demon, und
das lässt sie sie spüren. Magister Demon ist der Meinung, sie habe im Leben
mehr verdient als sie bekommen hat, und sie möchte nicht, dass ein anderer
bekommt, was ihr versagt geblieben ist. Die Kränkungen, die sie erlitten hat,
gibt sie an die Kinder in der Klasse weiter, und sie merkt, dass sie noch ein
gutes Auge hat, auch wenn es ihr schon öfters blau geschlagen worden ist. Sie
zielt mit einem kleinen Lineal auf die Hände, mit einem größeren auf den
Hintern, und sie trifft den Schüler so hart, dass ihm der Schmerz bis in die
Fersen fährt.
Dominika sitzt in der letzten
Reihe und schluckt ihren Brechreiz hinunter. Es reicht, dass sie im
Kindergarten gekotzt hat, sie weiß, was ihr dann bevorsteht. Zur Beruhigung
zählt sie die Topfpflanzen: vier Gummibäume, drei Dreimasterblumen, eine
blühende Zwiebel, zwei Gläser mit keimenden Bohnen. Wie kommen wir bloß an diese
Bohnenstange? Diese Worte der Mutter, die Dominika zufällig mitbekommen hat,
klingen ihr noch in den schamroten Ohren. So verlockend sieht die erste Bank
aus mit der süßen Jagienka Pasiak im Puppenformat. Sie könnten Schwestern sein.
Aber sie kommt nicht in Frage für eine Bohnenstange, ein Wechselbalg, einen
Bandwurm - in Dominika erwachte eine Miniaturjadzia, die mit dem Putztuch
wedelt und immer wieder ruft: Bohnenstange, Wechselbalg, Spinnerin! Dominika
ist voll mit solchen Wörtern, sie sind tief gesunken, bilden eine Schicht nach
der anderen aus elterlicher Unbeholfenheit, Bitterkeit und Schmerz. Magister
Demon steckt den Finger ganz tief hinein, rührt um und saugt den würzigen Geschmack
auf, der unter den Fingernägeln sitzt.
Der Junge, ein wenig kleiner als
Dominika, dunkelhaarig und braunhäutig, rutscht an den Bankrand in der
Mädchenreihe. Er heißt Dimitri Angelopoulos und ist Grieche, ein Kind aus einer
der Familien, vielleicht ein Dutzend, die es nach dem Krieg nach Walbrzych
verschlagen hat. Sie hatten gehofft, dort darauf warten zu können, dass in
ihrem Land der Sonne und des Weins auch der Kommunismus siegt. In Walbrzych gab
es den Kommunismus schon, aber weder Sonne noch Wein, und je mehr Zeit
verging, desto klarer wurde ihnen, dass weder Wafbrzych noch der Kommunismus
das Wahre sind, denn bei dieser Bibberkälte hatte man auf gar nichts Lust.
Durchfroren bis auf die Knochen und fassungslos auf einen Himmel blickend, der
so schwer und grau war wie eingetrocknete Auberginenpaste, hüllten sich die
Walbrzycher Griechen in Pelze, schnallten die Ledergürtel enger und wandten das
Antlitz nach Süden. Einige weideten auf den Hügeln und Halden um Walbrzych ihre
Schafherden, und jeder dieser Hirten trug die Erinnerung an einen derartigen
Sonnenglanz in sich, dass die Walbrzycher vor Helligkeit erblindet wären,
hätten sie unter ihre halbgeschlossenen Augenlider gespäht. Die Griechen verkauften
Wolle oder salzigen Käse, der zum Wodka nicht übel schmeckte, doch Dimitris
Vater war der Erste in seiner Familie, der keine Schafe weidete, er war
klassischer Philologe. Mit Frau, Tochter und zwei Söhnen bewohnte er eines der
ehemals deutschen Häuser mit Garten am Fuß von Piaskowa Gora, und nur die alten
Eisenbahngleise trennten ihn von Haiinas Mietshaus, von dem ihn vor dem Krieg
ein Meer und ein halber Kontinent getrennt hätten. Dimitri, der Älteste, kennt
das Vaterland der Eltern von Fotos und aus den täglichen Erzählungen. Von klein
auf hat man ihn den Hunger auf Aromen gelehrt, die es hier, wo er ist, nicht
gibt. Er lernt, dass er mehr wollen muss, als er hat, und dass dieses Mehr
irgendwo auf ihn wartet. Zuerst lernt der Junge die Namen von Dingen wie
Baklava, Olimbos, Kadafi, Karpathos, und erst viel später wird er ihren
Geschmack kennenlernen, den er aber schon lieben gelernt hat. Er weiß,
Walbrzych ist ein vorläufiger Ort, ein Ersatzort, und auch wenn er hier zur
Welt kam, betrachten ihn diese bleichlichen Schwachbrüstler aus ungebackenem
Teig als Fremden und rufen ihn Zigeuner oder gar, wer hätte das gedacht, Neger.
Sein Platz erwartet ihn im Schatten eines Feigenbaums, wo Generationen seiner
männlichen Vorfahren Kaffee und Ouzo getrunken und Streitgespräche über Politik
geführt haben, während die Frauen in schwarzen Kleidern Weinblätter füllten und
ihre ungeborenen Enkelinnen an den Mann brachten. Für Dimitris Eltern,
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