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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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während sie ihre Drehung im Laufe des Tages vollführt. Du würdest gewahr werden, dass sie der Sonne ihren Hymnus singt. Nun sieh dir die Lotosblüte an: Sie öffnet sich beim Aufgang der Sonne, bietet sich ihr in voller Pracht dar, wenn sie mittags im Zenit steht, und schließt sich, wenn die Sonne am Abend geht. Sie lobt die Sonne, indem sie ihre Blätter öffnet und schließt, so wie wir unsere Lippen öffnen und schließen, wenn wir beten. Diese Blumen leben in Sympathie mit dem Himmelskörper, und darum bewahren sie sich einen Teil seiner Kraft. Wenn du auf die Blume einwirkst, wirkst du auf die Sonne ein, wenn du auf die Sonne einzuwirken verstehst, kannst du ihre Wirkung beeinflussen und dich von der Sonne aus mit etwas verbinden, was in Sympathie mit der Sonne lebt und vollkommener ist als sie. Aber das geschieht nicht nur bei den Blumen, es geschieht auch bei den Steinen und bei den Tieren. In jedem von ihnen wohnt ein kleiner Gott, der sich durch die jeweils größeren mit dem gemeinsamen Ursprung zu vereinigen sucht. Wir lernen von Kindheit an eine Kunst auszuüben, die uns erlaubt, auf die größeren Götter einzuwirken und die abgerissene Verbindung wiederherzustellen.«
    »Was heißt das?«
    »Ganz einfach. Wir lernen, Steine, Kräuter, Aromen zusammenzufügen, die vollkommen und göttergleich sind, um aus ihnen ... wie kann ich dir das erklären ... Gefäße der Sympathie zu bilden, die die Kraft vieler Elemente bündeln und kondensieren. Du musst wissen, eine Blume, ein Stein, sogar ein Einhorn, sie alle haben göttlichen Charakter, aber von allein gelingt es ihnen nicht, die größeren Götter anzurufen. Unsere Mixturen reproduzieren dank der Kunst die Essenz, die wir anrufen wollen, indem sie die Kraft eines jeden Elementes vervielfachen.«
    »Und wenn ihr diese größeren Götter angerufen habt?«
    »Das ist erst der Anfang. Wir lernen, Botinnen zu werden zwischen dem, was oben, und dem, was unten ist, wir beweisen, dass der Strom, in dem Gott sich per Emanation in die Ferne ausdehnt, zurückverfolgt werden kann, ein kleines Stück nur, aber damit zeigen wir der Natur, dass es möglich ist. Die höchste Aufgabe ist jedoch nicht, eine Sonnenblume mit der Sonne zu verbinden, sondern uns selbst mit dem Ursprung wiederzuvereinigen. Hier beginnt die Askese. Zuerst lernen wir, uns tugendhaft zu benehmen, wir töten keine lebenden Wesen, wir bemühen uns, zwischen den uns umgebenden Wesen Harmonie zu verbreiten, und schon dadurch können wir überall verborgene Funken wecken. Siehst du diese Grashalme? Sie sind schon gelb geworden und neigen sich zu Boden. Ich kann sie berühren und noch vibrieren lassen, ich kann sie noch spüren lassen, was sie schon vergessen hatten. Schau, allmählich gewinnen sie ihre Frische zurück, als keimten sie gerade jetzt aus der Erde auf. Aber das genügt noch nicht. Um diesen Grashalm wiederzubeleben, muss man die natürlichen Kräfte reaktivieren, die Perfektion des Gesichtssinns und des Gehörs, die Kraft des Körpers, das Gedächtnis und die Lernfähigkeit, die Feinheit der Lebensart, und das erreicht man durch häufige Waschungen, Reinigungszeremonien, Hymnen, Gebete. Man tut einen Schritt vorwärts, indem man Weisheit, Festigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit kultiviert, und schließlich gelingt es, die reinigenden Tugenden zu erwerben: Wir probieren, die Seelevom Leib zu trennen, wir lernen, die Götter zu beschwören – nicht von den Göttern zu reden, wie es die anderen Philosophen taten, sondern auf sie einzuwirken, indem wir mit Hilfe einer magischen Kugel Regen fallen lassen, indem wir uns Amulette gegen die Erdbeben umhängen, indem wir die wahrsagerischen Kräfte der Dreifüße erkunden, indem wir die Statuen mit Leben erfüllen, um von ihnen Orakel zu erhalten, indem wir Asklepios anrufen, dass er die Kranken heile. Aber wohlgemerkt, während wir dies alles tun, müssen wir immer vermeiden, von einem Gott besessen zu sein, denn wer besessen ist, gerät in Verwirrung und erregt sich und entfernt sich infolgedessen von Gott. Man muss lernen, dies alles in absolutester Ruhe zu tun.«
    Hypatia nahm Baudolinos Hand, und er hielt seine Hand ganz still, damit dieses wunderbare Wärmegefühl nicht aufhörte. »Baudolino, vielleicht habe ich dich glauben lassen, ich sei schon fortgeschritten in der Askese wie meine größeren Schwestern ... Wenn du wüsstest, wie unvollkommen ich noch bin! Ich vertue mich immer noch, wenn ich eine Rose in Kontakt mit der höheren

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