Baudolino - Eco, U: Baudolino
Macht bringen will, mit der sie befreundet ist ... Und außerdem, du hörst ja, ich rede noch viel zu viel, und daran sieht man, dass ich noch nicht weise bin, denn die Tugend erwirbt man im Schweigen. Aber ich rede so viel, weil du da bist und unterwiesen werden musst, und wenn ich eine Sonnenblume unterweise, warum dann nicht auch dich? Wir werden eine höhere Stufe der Vollkommenheit erreichen, wenn es uns gelingt, zusammen zu sein, ohne zu reden. Dann genügt eine Berührung, und du wirst trotzdem verstehen. Wie bei der Sonnenblume.« Sie streichelte schweigend die Sonnenblume. Dann begann sie, immer noch schweigend, Baudolinos Hand zu streicheln, und sagte am Ende nur: »Merkst du?«
Am nächsten Tag sprach sie über das bei den Hypatien geübte Schweigen, damit auch er es erlerne, wie sie sagte. »Man muss eine absolute Stille ringsum erzeugen. Dann setzen wir uns in entlegener Einsamkeit vor das, was wiruns dachten, uns ausdachten und empfanden. So gelangen wir zu Ruhe und Frieden. Wir werden dann weder Zorn noch Verlangen, weder Schmerz noch Glück mehr empfinden. Wir werden aus uns selbst herausgetreten sein, entrückt in absoluter Einsamkeit und tiefster Stille. Wir werden nicht mehr die schönen und guten Dinge betrachten, wir werden über das Schöne als solches hinausgelangt sein, jenseits des Schönen als Begriff, jenseits des Chores der Tugenden, so wie diejenigen, die ins Allerheiligste des Tempels eingetreten sind, die Statuen der Götter hinter sich gelassen haben und nicht mehr Bilder sehen, sondern Gott selbst schauen. Wir werden keine Mittlerkräfte mehr anrufen müssen, sondern werden sie überwunden und ihren Mangel besiegt haben in jener Nische, jenem unzugänglichen heiligen Ort, wir werden hinausgelangt sein über das Göttergeschlecht und die Hierarchien der Äonen, all dies wird für uns nur noch Erinnerung sein an etwas, das wir von seinem Leiden am Dasein geheilt haben. Dies wird das Ende des Weges sein, die Befreiung, die Lösung aus allen Fesseln, die Flucht dessen, der nunmehr allein unterwegs zum Einen und Einzigen ist. In dieser Rückkehr zum absolut Einfachen werden wir nichts anderes mehr sehen als die Glorie der Dunkelheit. Entleert von Seele und Verstand, werden wir über das Reich des Geistes hinausgelangt sein, werden uns in Verehrung dort niederlassen, als wären wir eine aufgehende Sonne, mit geschlossenen Augen werden wir in die Sonne des Lichtes blicken, werden zu Feuer werden, zu dunklem Feuer in jenem Dunkel, und durch den Weg des Feuers werden wir unseren Weg vollenden. Und das wird der Augenblick sein, da wir, nachdem wir den Lauf des Flusses zurückverfolgt haben und nicht nur uns selbst, sondern auch den Göttern und Gott bewiesen haben, dass man gegen den Strom zurückrudern kann – das wird der Augenblick sein, da wir die Welt geheilt, das Böse getötet, den Tod haben sterben lassen, der Augenblick, da wir den Knoten gelöst haben, in dem sich die Finger des Demiurgen verfangen hatten. Uns, Baudolino, uns ist es beschieden, Gott zu heilen, uns ist seine Erlösung anvertraut worden: Durch unsere Ekstase werden wir die ganzeSchöpfung zurück ins Herz des Einen und Einzigen bringen. Wir werden ihm die Kraft geben, jenen großen Atemzug zu tun, der ihm erlaubt, das Böse, das er ausgehaucht hat, wieder einzusaugen.«
»Das macht ihr? Hat eine von euch das jemals geschafft?«
»Wir warten darauf, dass es uns gelingt, wir alle bereiten uns darauf vor, seit Jahrhunderten, damit es einer von uns gelingt. Was wir seit unserer Kindheit gelernt haben, ist: Wir müssen nicht alle zu diesem Wunder gelangen. Es genügt, dass eine von uns, die Auserwählte, eines Tages, sei es auch erst nach weiteren Jahrtausenden, den Moment der höchsten Vollkommenheit erreicht, in dem sie sich eins fühlt mit ihrem fernen Ursprung, und das Wunder ist vollbracht. Dann, wenn wir gezeigt haben werden, dass man von der Vielfalt der leidenden Welt zum Einen und Einzigen zurückkehren kann, dann werden wir Gott den Frieden und das Vertrauen zurückgegeben haben, die Kraft, sich in seinem eigenen Zentrum neu zu erschaffen, und die Energie, den Rhythmus seines Atems wiederaufzunehmen.«
Ihre Augen funkelten, ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Hände zitterten fast, ihre Stimme klang drängend, und sie schien Baudolino geradezu anzuflehen, ebenfalls an jene Offenbarung zu glauben. Baudolino dachte bei sich, es mochte ja sein, dass der Demiurg viele Fehler gemacht hatte, aber die Existenz
Weitere Kostenlose Bücher