Baudolino - Eco, U: Baudolino
Otto vielleicht nicht den Mut gehabt, die Gesta zu schreiben, und da diese Gesta es sind, aufgrund deren man künftig sagen wird, was Friedrich alles getan und nicht getan hat, könnte es sein, dass letztlich, wenn ich die erste Chronica nicht abgeschabt hätte, Friedrich am Ende gar nicht all das getan hat, was wir als seine Taten rühmen.«
Mein lieber Baudolino, dachte Niketas bei sich, du bist wie der kretische Lügner: Du sagst mir, du seist ein durchtriebener Lügner und willst, dass ich dir glaube. Du willst mir einreden, dass du aller Welt Lügenmärchen erzählt hast, nur mir nicht. In all den Jahren am Hof dieser Herrscher habe ich gelernt, den Fallstricken noch raffinierterer Meisterlügner, als du einer bist, zu entgehen ... Du selbst hast eingestanden, dass du nicht mehr recht weißt, wer du bist, und vielleicht liegt das gerade daran, dass du so viele Lügen erzählt hast, sogar dir selbst. Und nun verlangst du von mir, dass ich dir die Geschichte zusammenreime, die du selbst nicht zu fassen bekommst. Aber ich bin kein Lügner deines Schlages. Mein Leben lang habe ich die Erzählungen anderer befragt, um aus ihnen die Wahrheit ans Licht zu fördern. Vielleicht erwartest du von mir eine Geschichte, die dich davon freisprechen soll, dass du jemanden getötethast, um den Tod deines Friedrich zu rächen. Du konstruierst dir Schritt für Schritt diese Liebesgeschichte mit deinem Kaiser, damit es dann ganz natürlich erscheint, wenn du uns erklärst, dass du die Pflicht hattest, ihn zu rächen. Immer vorausgesetzt, dass er wirklich ermordet worden ist, und zwar von dem, den du getötet hast ...
Nach diesen Gedanken blickte Niketas zum Fenster hinaus. »Das Feuer erreicht die Akropolis«, sagte er.
»Ich bringe der Stadt Unglück.«
»Du hältst dich wohl für allmächtig. Das ist eine Sünde des Hochmuts.«
»Nein, eher ein Akt der Selbstkasteiung. Mein ganzes Leben lang ist es mir so ergangen: Kaum hatte ich mich einer Stadt genähert, schon wurde sie zerstört. Ich bin geboren in einer Gegend, die übersät ist mit kleinen Ortschaften und ein paar bescheidenen Burgen, von reisenden Händlern hörte ich die Schönheiten der urbs Mediolani preisen, aber was eine richtige Stadt ist, wusste ich nicht, ich war noch nicht einmal bis Tortona gelangt, dessen Türme ich in der Ferne sah, und Asti oder Pavia wähnte ich an den Grenzen des Irdischen Paradieses. Aber als ich dann in die Welt hinauszog, wurden alle Städte, in die ich kam, entweder gerade zerstört oder waren schon verbrannt: Tortona, Spoleto, Crema, Mailand, Lodi, Ikonion und schließlich Pndapetzim. Und so wird es auch bei dieser hier sein. Bin ich vielleicht – wie würdet ihr Griechen sagen – ein Polioklast kraft bösen Blickes?«
»Man soll sich nicht schlechter machen, als man ist.«
»Du hast recht. Einmal wenigstens habe ich eine Stadt gerettet, nämlich meine Heimatstadt, und zwar mit einer Lüge. Du meinst, ein einziges Mal genügt, um den bösen Blick auszuschließen?«
»Es bedeutet, dass es kein Schicksal gibt.«
Baudolino schwieg einen Augenblick. Dann drehte er sich um und betrachtete das, was Konstantinopel gewesen war. »Trotzdem fühle ich mich schuldig. Die das da draußen angerichtet haben sind Venezianer und Leute aus Flandern und vor allem fränkische Ritter aus der Champagne, aus Blois, aus Troyes, Orléans und Soissons, um nicht vonmeinen Landsleuten aus dem Montferrat zu sprechen. Ich hätte es vorgezogen, dass die Türken diese Stadt zerstörten.«
»Die Türken würden das niemals tun«, sagte Niketas. »Zu denen haben wir beste Beziehungen. Es waren die Christen, vor denen wir auf der Hut sein mussten. Aber vielleicht seid ihr ja die Hand Gottes, der euch geschickt hat, zur Strafe für unsere Sünden.«
» Gesta Dei per Francos «, sagte Baudolino.
4. Kapitel
Baudolino spricht mit dem Kaiser
und verliebt sich in die Kaiserin
Am Nachmittag fing Baudolino wieder an zu erzählen, und Niketas beschloss, ihn nicht mehr zu unterbrechen. Er wollte ihn rasch heranwachsen sehen, um zum springenden Punkt zu gelangen. Er hatte noch nicht begriffen, dass Baudolino selbst den springenden Punkt noch nicht gefunden hatte und gerade deshalb erzählte, um ihn zu finden.
Friedrich hatte Baudolino in die Obhut von Bischof Otto und dessen Sekretär Rahewin gegeben. Otto, ein Sprössling des großen Adelsgeschlechts der Babenberger, war als Bruder der Mutter ein Onkel des Kaisers, wenn auch nur knapp zehn Jahre
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