Baudolino - Eco, U: Baudolino
Abend wieder bewiesen, und als ich dich dort hinter der Ikonostase sprechen hörte, fing ich an zu begreifen. Du bist an das Dionysios-Ohr getreten und hast Friedrich gerufen. Ich nehme an, du hast dich dabei für mich ausgegeben, im Vertrauen darauf, dass die Stimme im oberen Stockwerk entstellt ankam. Du hast Friedrich gesagt, wir hätten entdeckt, dass jemand Gift in sein Essen gemischt habe, womöglich hast du sogar hinzugefügt, dass einer von uns schon grässliche Schmerzen litte und dass Ardzrouni seine Häscher losgeschickt habe. Du hast ihm gesagt, er solle den Schrein öffnen und sofort das Gegengift trinken. Mein armer Vater hat dir geglaubt, hat getrunken und ist tot umgefallen.«
»Schöne Geschichte«, sagte der Poet. »Und der Kamin?«
»Vielleicht ist er wirklich durch die Sonnenstrahlen aus dem Spiegel angezündet worden, aber erst, als Friedrich schon tot war. Der Kamin hat nichts damit zu tun, er war kein Teil deines Plans, jeder hätte ihn anzünden können, er hat dir nur geholfen, uns zu verwirren. Du hast Friedrich getötet, und erst heute bin ich dank deiner Mithilfe darauf gekommen. Sei verflucht! Wie konntest du dieses Verbrechen begehen, diesen Vatermord an deinem Wohltäter, nur aus Ruhmsucht? Hast du dir nicht klargemacht, dass du ein weiteres Mal dabei warst, dir den Ruhmanderer Leute anzueignen, so wie du es bei meinen Gedichten getan hast?«
»Das ist gut!« rief lachend der Boidi, der sich inzwischen von seinem Schrecken erholt hatte. »Der große Poet hat sich seine Gedichte von anderen schreiben lassen!«
Diese Demütigung, nach den vielen Enttäuschungen jenes Tages, im Verein mit dem verzweifelten Willen, den Gradal zu besitzen, trieb den Poeten zum Äußersten. Er zog sein Schwert, schrie: »Ich bringe dich um, ich bringe dich um!« und stürzte sich auf Baudolino.
»Ich habe dir immer gesagt, dass ich ein Mann des Friedens sei, Kyrios Niketas. Ich war zu schonungsvoll mit mir selbst. In Wirklichkeit bin ich ein Feigling, Friedrich hatte recht gehabt, damals. In diesem Augenblick hasste ich den Poeten aus tiefster Seele, ich wollte seinen Tod, und doch wollte ich ihn nicht töten, ich wollte nur verhindern, dass er mich tötete. Ich sprang rückwärts zwischen die Säulen, dann stürzte ich mich in den Gang, aus dem ich gekommen war. Ich floh ins Dunkel und hörte, wie er mir wutschnaubend folgte. Der Gang hatte kein Licht, wenn man sich tastend voranbewegte, berührte man die Mumien in den Nischen; sobald ich eine Öffnung zur Linken fand, hastete ich in jene Richtung. Er folgte dem Geräusch meiner Schritte. Endlich sah ich einen Lichtschimmer vor mir, und kurz darauf fand ich mich am Grund jenes nach oben offenen Brunnens, den ich schon beim Kommen passiert hatte. Inzwischen war es Abend, und fast wie durch ein Wunder erblickte ich genau über mir den Mond, der die Stelle beleuchtete, wo ich stand, und einen silbernen Widerschein auf die Gesichter der Toten warf. Vielleicht waren sie es, die mir sagten, dass man seinen Tod nicht überlisten kann, wenn er einem auf den Fersen ist. Ich blieb stehen. Ich sah den Poeten auf mich zukommen, er hielt sich die linke Hand vor die Augen, um diese unerwarteten Gäste nicht sehen zu müssen. Ich packte eines ihrer mottenzerfressenen Gewänder und zog mit aller Kraft daran. Eine Mumie stürzte direkt zwischen mich und den Poeten, Staub aufwirbelnd, vermischt mit winzigen Fetzen desGewebes, das im Moment der Bodenberührung zerfiel. Der Kopf hatte sich vom Körper gelöst und rollte vor die Füße meines Verfolgers, genau unter den Mondstrahl, so dass er ihm sein grässliches Grinsen zeigte. Der Poet hielt einen Augenblick erschrocken inne, dann stieß er den Schädel mit einem Fußtritt beiseite. Ich ergriff zwei weitere Mumien auf der gegenüberliegenden Seite und schleuderte sie ihm direkt ins Gesicht. »Schaff mir diese Toten vom Hals!« schrie der Poet, während ihm winzige staubtrockene Hautfetzen um den Kopf flogen. Ich konnte dieses Spiel nicht endlos fortsetzen, ich wäre aus dem Lichtkreis hinausgestürzt und wieder ins Dunkel gefallen. So zog ich meine beiden arabischen Dolche und hielt die Klingen gerade ausgestreckt vor mich hin wie ein Paar Hörner. Der Poet ging mit erhobenem Schwert auf mich los, er hob es mit beiden Armen, um mir den Schädel zu spalten, doch er stolperte über das zweite Skelett, das vor seine Füße gerollt war, und fiel mir entgegen, ich kippte nach hinten, lag rücklings am Boden, auf die
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