Baudolino - Eco, U: Baudolino
Finger in die Öffnung gelegt, durch welche der böse Geist entflohen sei, als Noah das Benedicite rezitierte. Er erzählte ihr von Albanien, einem riesigen Land, wo die Menschen weißer als anderswo sind und Haare dünn wie Katzenschnurrbärte haben; von einem Land, in dem einer, der sich nach Osten wendet, seinen Schatten nach rechts wirft; von einem anderen mit ungemein wilden Bewohnern, die bei der Geburt eines Kindes tiefe Trauer bekunden und große Feste feiern, wenn eines stirbt; von Regionen, wo sich Gebirge aus Gold erheben, bewacht von Ameisen, groß wie Hunde, und wo die Amazonen leben, Kriegerinnen, die ihre Männer im Nachbarland halten, ihre neugeborenen Söhne töten oder zum Vater schicken und ihren Töchtern mit glühenden Eisen eine Brust amputieren, den hochrangigen die linke, so dass sie den Schild besser tragen können, den niederen die rechte, so dass sie besser mit dem Bogen schießen können. Und schließlich erzählte er ihr vom Nil, einem der vier Flüsse, die aus demBerg des Irdischen Paradieses entspringen: Er fließt durch die Wüsten Indiens, versinkt in den Untergrund, kommt beim Berg Atlas wieder hervor und sucht sich dann durch Ägypten den Weg zum Meer.
Doch als er bei seiner Lektüre zu Indien gelangte, vergaß er fast seine Beatrix und verlor sich in anderen Phantasien, denn er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass in jenem Teil der Welt, wenn überhaupt irgendwo, das Reich jenes Presbyters Johannes sein müsse, von dem Bischof Otto gesprochen hatte. Baudolino hatte nie aufgehört, an diesen Priesterkönig zu denken, er dachte an ihn jedes Mal, wenn er von einem unbekannten Land las, besonders wenn das Pergament farbige Miniaturen von seltsamen Wesen enthielt, von Menschen mit Hörnern auf dem Kopf oder von jenen Pygmäen, die ständig mit Kranichen kämpfen. Er dachte so oft an ihn, dass er den Priester Johannes in seinen Gedanken schon wie einen Freund der Familie behandelte. Daher war es für ihn von großer Bedeutung zu wissen, wo dieser Johannes sich befinden mochte, und wenn es ihn nirgendwo gab, musste er wenigstens irgendein Indien finden, in das er ihn versetzen konnte, denn er fühlte sich gebunden durch einen Eid, den er dem lieben Bischof Otto am Sterbebett (wenn auch nicht wirklich) geschworen hatte.
Er erzählte auch seinen beiden Gefährten von jenem Priester, und sie waren sofort sehr angetan von dem Spiel und teilten ihm jeden vagen oder kuriosen Hinweis mit, den sie irgendwo in einer Handschrift fanden, um ihn die Myrrhen- und Weihrauchdüfte seines Indiens riechen zu lassen. Abdul erwärmte sich für die Idee, dass seine ferne Prinzessin, wenn sie denn fern sein musste, ihre strahlende Schönheit sicher im fernsten aller Länder versteckte.
»Ja«, meinte Baudolino, »aber auf welchen Wegen gelangt man nach Indien? Es kann nicht weit vom Irdischen Paradies entfernt sein, also im Osten des Ostens, wo die Erde aufhört und der Ozean beginnt ...«
Sie waren noch nicht bis zu den Vorlesungen über Astronomie gelangt und hatten sehr vage Vorstellungen über die Form der Erde. Der Poet war noch überzeugt, sie sei eineflache Scheibe, über deren Ränder die Wasser des Ozeans hinunterstürzen, Gott weiß wohin. Baudolino dagegen war von Rahewin – wenn auch mit einiger Skepsis – dahin gehend belehrt worden, dass nicht nur die großen Philosophen der Antike und Ptolemäus, der Vater aller Astronomen, sondern auch der heilige Isidor versichert hätten, die Erde sei eine Kugel, ja Isidor sei sich dessen sogar so gutchristlich sicher gewesen, dass er den Umfang des Äquators auf achtzigtausend Stadien festgesetzt habe. Jedoch, hatte Rahewin mit ausgebreiteten Händen gesagt, ebenso wahr sei, dass einige Kirchenväter, darunter der große Lactantius, daran erinnert hätten, dass der Bibel zufolge die Erde die Form eines Tabernakels habe, dass man also Himmel und Erde zusammen sehen müsse wie einen Schrein, einen Tempel mit seiner schönen Kuppel und seinem Boden, kurz, wie eine große Schachtel und nicht wie einen Ball. Rahewin selbst, der ein sehr vorsichtiger Mann war, hielt sich lieber an das, was der heilige Augustinus gesagt hatte, nämlich dass womöglich die heidnischen Philosophen recht hätten und die Erde rund sei und die Bibel nur bildlich von einem Tabernakel gesprochen habe, dass aber das Wissen um ihre Form nichts zur Lösung des einzigen schwerwiegenden Problems jedes guten Christen beitrage, nämlich wie man seine Seele rette, und daher sei es vertane
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