Baudolino
Gäste etwas wissen wollten, und zeigte Verständnis dafür, daß sie sich nach so vielen Jahren der Abwesenheit vielleicht nicht mehr
erinnerten, wie man in jenes Reich zurückfand, aus dem sie der Tradition nach gekommen waren, auch weil in den
Jahrhunderten seither allerlei Erdbeben und andere
Transformationen des Landes die Form der Berge und Ebenen gründlich verändert hatten. Er erläuterte, wie schwierig es sei, die Schlucht und den Sumpf zu überwinden, und machte darauf
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aufmerksam, daß die Regenzeit bald einsetzen werde, weshalb es nicht ratsam sei, die Reise sofort anzutreten. »Außerdem müssen meine Eunuchen«, sagte er, »erst Boten zu meinem Vater schicken, um ihn auf euren Besuch vorzubereiten, und diese Boten müssen mit seiner Einwilligung zu eurer Reise zurückkehren. Der Weg ist weit, das alles wird mindestens ein Jahr und vielleicht noch länger dauern. In der Zwischenzeit könnt ihr hier auf die Ankunft eures Mitbruders warten.
Selbstverständlich werdet ihr eurem Rang gemäß untergebracht sein.« Er sprach mechanisch, als sagte er eine soeben gelernte Lektion auf.
Die Gäste fragten ihn, was die Funktion und Aufgabe eines Diakons Johannes sei, und er erklärte es ihnen: Zu ihrer Zeit sei es vielleicht noch nicht so gewesen, aber die Gesetze des Reiches seien kurz nach der Abreise der Magier geändert worden. Man dürfe nicht meinen, der Priester sei ein einzelner Mensch, der ununterbrochen seit Jahrtausenden herrsche, es handle sich vielmehr um einen Titel.
Beim Tod eines Priesters besteige sein jeweiliger Diakon den Thron. Unverzüglich machten sich dann Würdenträger des
Reiches auf, um alle Familien zu besuchen und anhand
bestimmter wunderbarer Zeichen ein Kind zu identifizieren, das nicht älter als drei Monate sein dürfe und zum künftigen Erben und Adoptivsohn des Priesters bestimmt sei. Dieses Kind werde von seiner Familie mit Freude hergegeben und sogleich nach Pndapetzim geschickt, wo es während seiner Kinder- und
Jugendjahre darauf vorbereitet werde, seinem Adoptivvater nachzufolgen, ihn zu fürchten und zu lieben. Der junge Mann sprach mit trauriger Stimme, denn es sei das Schicksal eines jeden Diakons, sagte er, seinen Vater niemals kennenzulernen, weder den leiblichen noch den geistigen, den er nicht einmal auf der Totenbahre zu sehen bekomme, denn vom Zeitpunkt seines Todes bis zu dem, an welchem sein Erbe in der Hauptstadt des
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Reiches eintreffe, vergehe mindestens ein Jahr.
»Was ich von ihm sehen werde«, sagte er, »und ich hoffe aufs innigste, daß es erst so spät wie möglich sein wird, ist lediglich ein Abbild auf dem Grabtuch, in das er vor der Beerdigung eingehüllt werden wird, nachdem man seinen Leib mit Öl und anderen wundertätigen Substanzen eingerieben hat, die seine Formen in das Leinen eindrücken.« Dann fügte er hinzu: »Ihr werdet hier lange bleiben, und ich bitte euch, mich hin und wieder zu besuchen. Ich liebe es, von den Wundern des
Okzidents erzählt zu bekommen und auch Geschichten von den tausend Schlachten und Belagerungen zu hören, die dort, wie es heißt, das Leben lebenswert machen. Ich sehe Waffen an euren Gürteln, sehr viel schönere und stärkere, als sie bei uns gebräuchlich sind, und ich stelle mir vor, daß ihr selber Heere in die Schlacht geführt habt, wie es sich für Könige ziemt. Bei uns dagegen bereitet man, sich seit unvordenklicher Zeit auf den Krieg vor, aber ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, eine Armee in offener Feldschlacht zu befehligen.« Es war keine bloße Einladung, es war eine fast flehentliche Bitte, vorgetragen im Ton eines Jungen, dessen Phantasie sich über Büchern voll atemberaubender Abenteuer entzündet hatte.
»Bedenkt aber, daß Ihr Euch nicht zu sehr anstrengt, Herr«, sagte Praxeas sehr unterwürfig. »Jetzt ist es spät und Ihr seid müde. Besser, Ihr entlaßt für heute Eure Besucher.« Der Diakon nickte, doch an der resignierten Geste, mit der er seinen Abschiedsgruß begleitete, erkannten Baudolino und die Seinen, wer wirklich an diesem Ort das Kommando hatte.
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31. KAPITEL
BAUDOLINO WARTET AUF DIE
WEITERREISE REICH DES
PRIESTERS JOHANNES
Baudolino hatte zu lange erzählt, und Niketas war hungrig geworden. Theophilattos bat ihn zu Tisch und servierte Kaviar von verschiedenen Fischen, gefolgt von einer Suppe mit
Zwiebeln und Öl und Oliven, die in einem Teller voller
Brotkrümel serviert wurde, danach eine Sauce aus zerstampften Muscheln, angemacht mit
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