Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
sagte, tatsächlich
    versammelten sie sich zum Gebet, und dann diskutierten sie alle gemeinsam über das große Mysterium der falschen
    -495-
    Fleischwerdung, das gänzlich aufzuklären ihnen noch nicht gelungen sei. Und wirklich, nachdem die Blemmyer
    niedergekniet waren und sich eine halbe Stunde lang in ihren seltsamen Vokalisen ergangen hatten, eröffnete der Priester das, was er ihr heiliges Palaver nannte.
    Einer der Gläubigen stand auf und gab zu bedenken, daß der Jesus der Passion vielleicht kein echtes Phantasma gewesen sei, sonst müßte man ja die Apostel für blöd erklären, sondern eine höhere Macht, die vom Vater ausgegangen sei, ein Aon, der in den schon vorhandenen Leib eines Zimmermanns aus Galiläa gefahren sei. Ein anderer brachte den Gedanken vor, daß vielleicht Maria, wie einige schon erwogen hatten, zwar wirklich ein menschliches Wesen geboren hatte, daß aber der Gottessohn - also der Logos, der nicht Fleisch werden konnte -
    durch sie nur hindurchgeströmt sei wie Wasser durch eine Röhre, vielleicht sei er auch durch ein Ohr in sie eingedrungen.
    An dieser Stelle brach ein Sturm von Protesten los, und viele schrien »Paulikianer! Bogomile!« - womit sie ausdrücken wollten, daß der Betreffende eine häretische Lehre vorgebracht habe, und tatsächlich wurde er aus dem Tempel gejagt. Ein dritter erkühnte sich zu der These, daß derjenige, der am Kreuz gelitten hatte, Simon von Kyrene gewesen sei, der Jesus im letzten Moment ersetzt habe, wogegen die anderen einwandten, daß es, um jemand ersetzen zu können, diesen Jemand erst einmal geben müsse. Nein, erwiderte der Sprecher, der Jemand, der da ersetzt worden sei, sei eben genau der Jesus als Phantasma gewesen, der als solches nicht habe leiden können, und ohne Passion hätte es keine Erlösung gegeben. Erneuter Proteststurm, denn wer so rede, behaupte, daß die Menschheit durch den armen Simon von Kyrene erlöst worden sei. Ein vierter Gläubiger erinnerte daran, daß der Logos, also das Wort Gottes, während der Taufe am Jordan in Gestalt einer Taube in den Leib Jesu gefahren sei, aber es war klar, daß man auf diese
    -496-
    Weise das Wort mit dem Heiligen Geist verwechselte und daß der von diesem durchdrungene Leib kein Phantasma war - und warum sollten sich dann die Blemmyer, wie sie es zu Recht taten, als phantasiastoi bezeichnen? Von der Debatte
    mitgerissen, meldete sich an dieser Stelle der Poet zu Wort und fragte: »Aber wenn der nicht fleischgewordene Sohn bloß ein Phantasma war, warum spricht er dann im Garten Gethsemane so verzweifelte Worte, und warum beklagt er sich am Kreuz?
    Was kümmert es ein göttliches Phantasma, ob man ihm Nägel in einen Leib schlägt, der bloße Erscheinung ist? Hat er nur eine Szene gemacht, wie ein Schauspieler?« Der Poet hatte das eigentlich nur gefragt, weil er dachte, er könne durch Bezeugung von Scharfsinn und Durst nach Erkenntnis die Blemmyerfrau verführen, auf die er ein Auge geworfen hatte, aber die entgegengesetzte Wirkung trat ein. Die ganze Gemeinde schrie auf: »Anathema! Anathema!«, und unsere Freunde begriffen, daß der Moment gekommen war, die Versammlung fluchtartig zu verlassen. So war es dem Poeten aufgrund übertriebener theologischer Spitzfindigkeit mißlungen, seine drängende fleischliche Leidenschaft zu befriedigen.
    Während Baudolino und die anderen Christen sich diesen
    Erfahrungen widmeten, befragte Solomon die Einwohner von Pndapetzim einen nach dem anderen, ob sie etwas von den zehn verstreuten Stämmen wüßten. Gavagais am ersten Tag gemachte Bemerkung über die Rabbiner hatte ihm gesagt, daß er auf dem richtigen Weg war. Doch ob nun die Monster der verschiedenen Rassen wirklich nichts wußten, oder ob das Thema mit einem Tabu belegt war, jedenfalls gelang es Solomon nicht, irgend etwas herauszubekommen. Schließlich sagte ihm einer der Eunuchen, jawohl, der Tradition nach seien Gruppen von Juden durch das Reich des Priesters Johannes gezogen, vor vielen Jahrhunderten sei das gewesen, aber dann hätten sie beschlossen weiterzuziehen, vielleicht aus Furcht, daß die angedrohte Invasion der Weißen Hunnen sie zu einer neuen Diaspora
    -497-
    zwingen könnte, und Gott allein wisse, wohin sie gezogen seien.
    Solomon kam jedoch zu dem Schluß, daß der Eunuch log, und wartete weiter darauf, endlich in jenes Reich zu kommen, wo er seine Glaubensbrüder bestimmt finden würde.
    Manchmal versuchte Gavagai, seine Schutzbefohlenen zum
    richtigen Denken zu bekehren.

Weitere Kostenlose Bücher