Baudolino
andererseits, indem wir uns zu Interpreten des Willens und Wortes jenes Priesters Johannes machen, den sie nie gesehen haben. Was kann da unser junger Diakon helfen, werdet auch ihr euch gefragt haben. Wenn wir Eunuchen jedoch auf die Unterstützung und Autorität der Magier zählen können, vergrößert sich unsere Macht. Sie vergrößert und festigt sich hier, aber sie könnte sich auch...
woandershin ausdehnen.«
»Ins Reich des Priesters?« fragte der Poet.
»Wenn ihr dorthin kämt, müßtet ihr als die legitimen Herren anerkannt werden. Um dorthin zu kommen, braucht ihr uns, und wir brauchen euch hier. Wir sind eine eigenartige Rasse, nicht wie die Monster da draußen, die sich nach den elenden Gesetzen des Fleisches reproduzieren. Eunuch wird man, weil die anderen Eunuchen einen auserwählt und zum Eunuchen gemacht haben.
In dem, was viele für ein Unglück halten, fühlen wir uns vereint wie in einer Familie, ich meine, wir mit allen anderen Eunuchen, die irgendwo auf der Welt regieren, und wir wissen, daß es auch im fernen Okzident sehr mächtige gibt, um nicht von den vielen
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anderen Reichen in Indien und Afrika zu reden. Wir brauchten nur von einem besonders mächtigen Zentrum aus unsere
Mitbrüder in allen Ländern der Erde zu einem geheimen Bund zu vereinigen, und wir hätten das größte aller Reiche gegründet.
Ein Reich, das niemand erobern oder zerstören könnte, weil es nicht aus Armeen und Territorien bestünde, sondern aus einem Gewebe wechselseitigen Einverständnisses. Ihr wärt das Symbol und die Garantie unserer Macht.«
Am nächsten Tag kam Praxeas zu Baudolino und gestand ihm, daß er den Eindruck habe, am Abend zuvor sehr dumme und sinnlose Sachen gesagt zu haben, die er nie ernst gemeint habe.
Es tue ihm leid und er bitte sehr darum, seine Worte zu vergessen. Beim Abschied wiederholte er noch einmal: »Ich bitte euch, denkt daran, sie zu vergessen.«
»Priester oder nicht«, kommentierte der Poet noch am selben Tag, »Praxeas bietet uns ein Reich an.«
»Du bist verrückt«, entgegnete Baudolino, »wir haben eine Mission, und wir haben es Friedrich geschworen.«
»Friedrich ist tot«, sagte der Poet trocken.
Mit Erlaubnis der Eunuchen ging Baudolino häufig den
Diakon besuchen. Sie hatten sich angefreundet, Baudolino erzählte ihm von der Zerstörung Mailands, von der Gründung Alexandrias, von den Einzelheiten der Belagerungen - wie man die Mauern erklimmt oder was man tun muß, um die
Wurfmaschinen und Rammböcke der Angreifer in Brand zu
stecken. Ihm schien, daß dem jungen Diakon bei diesen
Erzählungen die Augen glänzten, obwohl sein Gesicht unter einem Schleier verborgen blieb.
Danach fragte Baudolino den Diakon nach den theologischen Kontroversen, die in seiner Provinz tobten, und ihm schien, daß er bei der Antwort melancholisch lächelte. »Das Reich des Priesters ist uralt«, sagte er, »und in ihm haben alle Sekten
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Zuflucht gefunden, die im Lauf der Jahrhunderte aus der christlichen Welt des Okzidents ausgestoßen wurden.« Es war klar, daß für ihn auch Byzanz, von dem er wenig wußte, zum Fernen Okzident gehörte. »Der Priester hat keinem dieser Ausgestoßenen seinen Glauben nehmen wollen, und die Predigt vieler von ihnen hat die verschiedenen Bewohner des Reiches in Versuchung geführt. Aber schließlich, was macht das schon, wozu muß man wissen, wie die Allerheiligste Dreifaltigkeit wirklich beschaffen ist? All diese Leute brauchen bloß die Gebote des Evangeliums zu befolgen, und sie werden nicht in die Hölle kommen, bloß weil sie meinen, daß der Heilige Geist allein vom Vater ausgeht. Es sind gute Leute, du wirst es bemerkt haben, und mir bricht das Herz bei dem Gedanken, daß sie vielleicht eines Tages allesamt umkommen werden, benutzt und verheizt als Bollwerk gegen die Weißen Hunnen. Jawohl, Baudolino, so ist es: Solange mein Vater am Leben ist, herrsche ich über ein Reich von Todgeweihten. Aber vielleicht sterbe ich ja vor ihm.«
»Was sagst du da, edler Herr? An deiner Stimme höre ich und schon wegen deines Erbpriester-Amtes weiß ich, daß du noch jung bist!« Der Diakon schüttelte traurig den Kopf. Da
versuchte Baudolino ihn zu erheitern und erzählte ihm von seinen Studentenstreichen in Paris, doch er merkte, daß er damit nur unbändig-wilde Gelüste im Herzen des jungen Mannes
weckte und zugleich Erbitterung darüber, daß er diese Gelüste nicht befriedigen konnte. So zeigte sich Baudolino als der, der er war und
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