Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
gewesen war, und vergaß, sich als einen der Magier auszugeben. Aber auch der Diakon legte keinen Wert mehr auf diese Fiktion und ließ durchblicken, daß er an die elf Magier ohnehin nie geglaubt und nur nachgesprochen habe, was ihm die Eunuchen vorgesagt hatten.
    Angesichts seines offenkundigen Grams darüber, daß er von den Freuden der Jugend ausgeschlossen war, versuchte
    -502-
    Baudolino ihm eines Tages klarzumachen daß man das Hetz auch voller Liebe für eine unerreichbare Geliebte haben konnte, und erzählte ihm von seiner Leidenschaft für eine hochedle Dame und von den Briefen, die er an sie geschrieben hatte. Der Diakon hörte ihm mit wachsender Erregung zu, dann brach er in eine heftige Klage aus: »Alles ist mir verboten, Baudolino, auch eine bloß geträumte Liebe. Wenn du wüßtest, wie gern ich an der Spitze eines Heeres reiten würde, dem Geruch des Windes folgend und dem Geruch des Blutes! Tausendmal besser, in der Schlacht zu sterben, den Namen der Geliebten auf den Lippen, als hier in dieser Höhle zu sitzen und zu warten... auf was?
    Vielleicht auf nichts...«
    »Aber, edler Herr«, sagte Baudolino, »du bist dazu ausersehen, das Oberhaupt eines großen Reiches zu werden. Eines Tages wirst du - Gott gebe deinem Vater ein langes Leben - diese Höhle verlassen, und Pndapetzim wird nur die letzte und abgelegenste deiner Provinzen sein.«
    »Eines Tages, eines Tages...«, murmelte der Diakon. »Wer garantiert mir das? Weißt du, Baudolino, meine tiefste
    Befürchtung ist, und Gott vergebe mir diesen Zweifel, der mich zerfrißt, daß es das Reich meines Vaters gar nicht gibt. Wer hat mir von ihm erzählt? Die Eunuchen, seit ich ein kleines Kind war. Zu wem kehren die Boten zurück, die sie - sie, sage ich - zu meinem Vater schicken? Zu ihnen, den Eunuchen. Sind diese Boten wirklich aufgebrochen? Sind sie wirklich zurückgekehrt?
    Haben sie überhaupt jemals existiert? Ich weiß alles nur von den Eunuchen. Was, wenn alles, diese ganze Provinz, vielleicht die ganze Welt, nur die Frucht eines Komplotts der Eunuchen wäre, die sich über mich lustig machen wie über den letzten Nubier oder Skiapoden? Und wenn auch die Weißen Hunnen nicht
    existierten? Von allen Menschen wird ein tiefer Glaube an den Schöpfer des Himmels und der Erde und die unergründlichsten Mysterien unserer heiligen Religion erwartet, auch wenn sie
    -503-
    unserem Verstand aufs krasseste widersprechen. Aber die Forderung, an diesen unbegreiflichen Gott zu glauben, ist unendlich viel leichter erfüllbar als die an mich gestellte Forderung, allein den Eunuchen zu glauben.«
    »Nein, edler Herr, nein, mein Freund«, tröstete ihn Baudolino,
    »das Reich deines Vaters gibt es wirklich, ich habe es nicht nur von den Eunuchen gehört, sondern schon lange vorher von Leuten, die fest daran glaubten. Der Glaube macht, daß die Dinge wahr werden. Meine Mitbürger hatten an eine neue Stadt geglaubt, an eine, die sogar einem großen Kaiser Angst
    einzujagen vermochte, und diese Stadt ist entstanden, weil sie so fest an sie glaubten. Das Reich des Priesters ist wahr, weil meine Freunde und ich zwei Drittel unseres Lebens damit verbracht haben, nach ihm zu suchen.«
    »Mag sein«, sagte der Diakon, »aber auch wenn es existiert, werde ich es nie zu sehen bekommen.«
    »Genug davon!« sagte Baudolino eines Tages. »Du fürchtest, daß das Reich nicht existiert, und während du darauf wartest, es zu sehen, überläßt du dich einem allumfassenden Weltverdruß, der dich töten wird. Im Grunde schuldest du niemandem etwas, weder den Eunuchen noch dem Priester. Sie haben dich gewählt, du warst ein Säugling und konntest sie nicht wählen. Du willst ein Leben in Abenteuer und Ruhm? Wohlan, nimm eines
    unserer Pferde, reite nach Palästina, wo tapfere Christen gegen die Mauren kämpfen. Werde der Held, der du sein möchtest, die Burgen des Heiligen Landes sind voller Prinzessinnen, die ihr Leben für ein Lächeln von dir geben würden.«
    »Hast du jemals mein Lächeln gesehen?« erwiderte der
    Diakon. Mit einem Ruck riß er sich den Schleier vom Gesicht, und Baudolino erblickte eine gespenstische Maske mit roten Lippen, die faules Zahnfleisch und kariöse Zähne enthüllten.
    Die Gesichtshaut war runzlig und an manchen Stellen so weit
    -504-
    geschwunden, daß man, in einem abstoßenden Rosa, das Fleisch bloßliegen sah. Die Augen glühten unter hängenden und
    zerfressenen Lidern hervor. Die Stirn war eine einzige Wunde.
    Das Haar war lang und

Weitere Kostenlose Bücher