Baudolino
erstarrte er, ohne einem einzigen Muskel seines Gesichts zu erlauben, die Regungen seines Herzens zu verraten, noch seiner Stimme, zu zittern, und fragte mit theologischer Festigkeit: »Aber was ist dann mit der
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Schöpfung? Mit dem Bösen?«
Hypatias Gesicht nahm wieder die rosige Blässe an. »Nun, der Einzige neigt dazu, aufgrund seiner Vollkommenheit, aus Großzügigkeit gegenüber sich selbst, sich zu verströmen, sich auszudehnen in immer weitere Sphären seiner eigenen Fülle, er wird wie die Kerze zum Opfer des Lichtes, das er verbreitet, je mehr er leuchtet, desto mehr löst er sich auf. Jawohl, das ist es, Gott verflüssigt sich in die Schatten seiner selbst, er wird zu einer Vielzahl von Boten-Gottheiten, von Äonen, die viel von seiner Potenz haben, aber in schon schwächeren Formen. Sie sind eine Vielheit von Göttern, Dämonen, Archonten, Tyrannen, Kräfte, Funken, Astren und selbst das, was die Christen Engel oder Erzengel nennen... Aber sie sind von dem Einzigen nicht geschaffen worden, sie sind seine Emanationen.«
»Emanationen?«
»Ausflüsse, Ausstrahlungen, jawohl. Siehst du den Vogel da?
Früher oder später wird er einen anderen Vogel hervorbringen, indem er ein Ei ausbrütet, so wie eine Hypatia ein Kind aus ihrem Bauch hervorbringen kann. Aber wenn die Kreatur einmal hervorgebracht worden ist, sei sie eine Hypatia oder ein Vogel, dann lebt sie aus eigener Kraft und überlebt auch den Tod ihrer Mutter. Nun denk statt dessen ans Feuer. Das Feuer bringt keine Wärme hervor, es strahlt sie aus. Die Wärme ist dasselbe wie das Feuer, wenn du das Feuer löschst, hört auch die Wärme auf.
Die Wärme des Feuers ist am stärksten da, wo das Feuer
entsteht, und sie wird immer schwächer, je mehr die Flamme zu Rauch wird. So ist es auch mit Gott. Je weiter er sich in Emanationen verströmt und dabei von seinem dunklen Zentrum entfernt, desto mehr verliert er an Kraft, und am Ende wird er eine zähflüssige, trübe Materie, wie das formlose Wachs, in das die Kerze zerfließt. Der Eine und Einzige würde sich lieber nicht so weit ausdehnen, aber er kann nichts tun gegen dieses Sichverströmen bis in die Vielheit und bis ins Chaos.«
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»Und dieser dein Gott ist nicht imstande, das Böse aufzulösen, das... das sich rings um ihn bildet?«
»O doch, er könnte schon. Der Eine und Einzige ist immerzu bemüht, diesen Atem, der zu Gift werden kann, wieder
einzusaugen, und siebzigmal siebentausend Jahre lang war es ihm stets gelungen, seine Ausdünstungen wieder ins Nichts zurückzuholen. Das Leben Gottes war ein regelmäßiger Atem, er atmete ohne Anstrengung. So, hörst du?« Sie zog die Luft durch die Nase ein, wobei ihre zarten Nasenflügel vibrierten, und stieß sie durch den Mund wieder aus. »Eines Tages jedoch verlor er die Kontrolle über eine seiner Zwischenpotenzen, die wir den Demiurgen nennen, der vielleicht Zebaoth oder
Jaldabaoth, der falsche Gott der Christen ist. Dieser Abklatsch Gottes nun, der hat aus Versehen oder aus Stolz oder aus Torheit die Zeit geschaffen, wo es vorher nur Ewigkeit gab. Die Zeit ist eine stammelnde Ewigkeit, verstehst du? Und zusammen mit der Zeit hat er das Feuer geschaffen, das Wärme spendet, aber auch alles zu verbrennen droht, das Wasser, das den Durst stillt, aber auch alles ersäuft, die Erde, die das Gras und die Kräuter ernährt, aber auch Lawine werden und sie ersticken kann, die Luft, die uns atmen läßt, aber auch Orkan werden kann... Er hat alles falsch gemacht, dieser täppische Demiurg. Er hat die Sonne gemacht, die Licht spendet, aber die Felder und Wiesen
ausdörren kann, den Mond, der die Nacht nur ein paar Nächte lang beherrschen kann, dann nimmt er schon wieder ab und stirbt, die anderen Himmelskörper, die prächtig sind, aber schädliche Einflüsse ausstrahlen können. Und dann die
verstandesbegabten Wesen, die aber nicht fähig sind, die großen Mysterien zu verstehen, die Tiere, die uns manchmal treu sind und manchmal bedrohen, die Pflanzen, die uns ernähren, aber nur ein sehr kurzes Leben haben, die Mineralien, die ohne Leben, ohne Seele, ohne Verstand sind und daher nie etwas begreifen. Der Demiurg war wie ein Kind, das Figuren aus Schlamm formt in der Absicht, die Schönheit des Einhorns
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nachzubilden, und heraus kommt etwas, das eher wie eine Ratte aussieht!«
»Dann ist also die Welt eine Krankheit Gottes?«
»Wenn du vollkommen bist, kannst du nicht umhin, dich in Emanationen zu verströmen, und wenn du
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