Baudolino
Blumen, die Wurzeln, die Quellen; jede von ihnen, sosehr sie auch daran leidet, eine schlechte Nachahmung der Gedanken Gottes zu sein, möchte nichts anderes, als sich wieder mit ihm vereinen. Wir müssen die Harmonie zwischen den Gegensätzen wiederfinden, wir müssen den Göttern helfen, wir müssen diese Funken zum Leben erwecken, diese Erinnerungen an den Einen und
Einzigen, die noch begraben Hegen in unseren Seelen und in den Dingen selbst.«
Mindestens zweimal hatte sich Hypatia entschlüpfen lassen, daß sie es schön fand, mit Baudolino zusammenzusein. Das ermutigte ihn wiederzukommen.
Eines Tages erklärte sie ihm, wie die Hypatien es anstellten, den göttlichen Funken in allen Dingen zu entzünden, damit diese aus Sympathie auf etwas verwiesen, das vollkommener
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war als sie, nicht direkt auf Gott, aber auf seine minder geschwächten Emanationen. Sie führte ihn an eine Stelle am See, wo Sonnenblumen am Ufer wuchsen, während auf dem
Wasser Lotosblumen schwammen.
»Siehst du, was die Sonnenblume macht? Sie dreht sich zur Sonne, sucht sie, folgt ihr und betet zu ihr, und es ist schade, daß du noch nicht das Brausen in der Luft hören kannst, das sie macht, während sie ihre Drehung im Laufe des Tages vollführt.
Du würdest gewahr werden, daß sie der Sonne ihren Hymnus singt. Nun sieh dir die Lotosblüte an: Sie öffnet sich beim Aufgang der Sonne, bietet sich ihr in voller Pracht dar, wenn sie mittags im Zenit steht, und schließt sich, wenn die Sonne am Abend geht. Sie lobt die Sonne, indem sie ihre Blätter öffnet und schließt, so wie wir unsere Lippen öffnen und schließen, wenn wir beten. Diese Blumen leben in Sympathie mit dem
Himmelskörper, und darum bewahren sie sich einen Teil seiner Kraft. Wenn du auf die Blume einwirkst, wirkst du auf die Sonne ein, wenn du auf die Sonne einzuwirken verstehst, kannst du ihre Wirkung beeinflussen und dich von der Sonne aus mit etwas verbinden, was in Sympathie mit der Sonne lebt und vollkommener ist als sie. Aber das geschieht nicht nur bei den Blumen, es geschieht auch bei den Steinen und bei den Tieren.
In jedem von ihnen wohnt ein kleiner Gott, der sich durch die jeweils größeren mit dem gemeinsamen Ursprung zu vereinigen sucht. Wir lernen von Kindheit an eine Kunst auszuüben, die uns erlaubt, auf die größeren Götter einzuwirken und die abgerissene Verbindung wiederherzustellen.«
»Was heißt das?«
»Ganz einfach. Wir lernen, Steine, Kräuter, Aromen
zusammenzufügen, die vollkommen und göttergleich sind, um aus ihnen... wie kann ich dir das erklären... Gefäße der Sympathie zu bilden, die die Kraft vieler Elemente bündeln und kondensieren. Du mußt wissen, eine Blume, ein Stein, sogar ein
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Einhorn, sie alle haben göttlichen Charakter, aber von allein gelingt es ihnen nicht, die größeren Götter anzurufen. Unsere Mixturen reproduzieren dank der Kunst die Essenz, die wir anrufen wollen, indem sie die Kraft eines jeden Elementes vervielfachen.«
»Und wenn ihr diese größeren Götter angerufen habt?«
»Das ist erst der Anfang. Wir lernen, Botinnen zu werden zwischen dem, was oben, und dem, was unten ist, wir beweisen, daß der Strom, in dem Gott sich per Emanation in die Ferne ausdehnt, zurückverfolgt werden kann, ein kleines Stück nur, aber damit zeigen wir der Natur, daß es möglich ist.
Die höchste Aufgabe ist jedoch nicht, eine Sonnenblume mit der Sonne zu verbinden, sondern uns selbst mit dem Ursprung wiederzuvereinigen. Hier beginnt die Askese. Zuerst lernen wir, uns tugendhaft zu benehmen, wir töten keine lebenden Wesen, wir bemühen uns, zwischen den uns umgebenden Wesen
Harmonie zu verbreiten, und schon dadurch können wir überall verborgene Funken wecken. Siehst du diese Grashalme? Sie sind schon gelb geworden und neigen sich zu Boden. Ich kann sie berühren und noch vibrieren lassen, ich kann sie noch spüren lassen, was sie schon vergessen hatten. Schau, allmählich gewinnen sie ihre Frische zurück, als keimten sie gerade jetzt aus der Erde auf. Aber das genügt noch nicht. Um diesen Grashalm wiederzubeleben, muß man die natürlichen Kräfte reaktivieren, die Perfektion des Gesichtssinns und des Gehörs, die Kraft des Körpers, das Gedächtnis und die Lernfähigkeit, die Feinheit der Lebensart, und das erreicht man durch häufige Waschungen, Reinigungszeremonien, Hymnen, Gebete. Man tut einen Schritt vorwärts, indem man Weisheit, Festigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit kultiviert, und
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