Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
der ihm erlaubt, das Böse, das er ausgehaucht hat, wieder einzusaugen.«
    »Das macht ihr? Hat eine von euch das jemals geschafft?«
    »Wir warten darauf, daß es uns gelingt, wir alle bereiten uns darauf vor, seit Jahrhunderten, damit es einer von uns gelingt.
    Was wir seit unserer Kindheit gelernt haben, ist: Wir müssen nicht alle zu diesem Wunder gelangen. Es genügt, daß eine von uns, die Auserwählte, eines Tages, sei es auch erst nach weiteren Jahrtausenden, den Moment der höchsten Vollkommenheit
    erreichtem dem sie sich eins fühlt mit ihrem fernen Ursprung, und das Wunder ist vollbracht. Dann, wenn wir gezeigt haben werden, daß man von der Vielfalt der leidenden Welt zum Einen und Einzigen zurückkehren kann, dann werden wir Gott den Frieden und das Vertrauen zurückgegeben haben, die Kraft, sich in seinem eigenen Zentrum neu zu erschaffen, und die Energie, den Rhythmus seines Atems wiederaufzunehmen.«
    Ihre Augen funkelten, ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Hände zitterten fast, ihre Stimme klang drängend, und sie schien Baudolino geradezu anzuflehen, ebenfalls an jene Offenbarung zu glauben. Baudolino dachte bei sich, es mochte ja sein, daß der Demiurg viele Fehler gemacht hatte, aber die Existenz dieser einen Kreatur machte die Welt zu einem betörenden und
    strahlenden Ort aller Vollkommenheiten.
    Er konnte nicht widerstehen, ergriff ihre Hand und berührte sie mit einem hingehauchten Kuß. Sie zuckte zusammen, als hätte sie eine bisher unbekannte Erfahrung gemacht. »Auch du bist von einem Gott bewohnt«, sagte sie zuerst. Dann schlug sie sich die Hände vor das Gesicht und murmelte überrascht: »Ich habe... ich habe die Apathie verloren...«
    -543-
    Sie drehte sich um und lief in den Wald, ohne noch etwas zu sagen und ohne sich umzusehen.
    »Kyrios Niketas, in jenem Augenblick wurde mir klar, daß ich liebte, wie ich noch niemals im Leben geliebt hatte, aber daß ich ein weiteres Mal die einzige Frau liebte, die nicht die meine sein konnte. Die erste war mir durch die Erhabenheit ihres Standes entzogen worden, die zweite durch das Elend des Todes, jetzt konnte die dritte mir nicht gehören, weil sie der Erlösung Gottes geweiht war. Ich ging fort, kehrte in die Stadt zurück und dachte, ich würde vielleicht nie wiederkommen dürfen. Ich fühlte mich fast erleichtert, als mir Praxeas am nächsten Tag sagte, in den Augen der Bewohner von Pndapetzim sei ich zweifellos der angesehenste unter den Magiern, ich genösse das Vertrauen des Diakons, und der Diakon wünsche sich, daß ich das Oberkommando jener Armee übernähme, die der Poet
    inzwischen so gut ausgebildet habe. Ich konnte mich dieser Aufforderung nicht entziehen, eine Spaltung in der Gruppe der Magier hätte unsere Lage in den Augen aller unhaltbar gemacht, und alle waren inzwischen so hingebungsvoll mit der
    Vorbereitung des Krieges beschäftigt, daß ich einwilligte - auch um die Skiapoden, die Panothier, die Blemmyer und all die anderen braven Leute nicht zu enttäuschen, die mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen waren. Vor allem dachte ich dabei, daß ich, wenn ich mich dieser neuen Aufgabe widmete,
    schneller vergessen würde, was ich im Wald zurückgelassen hatte. Zwei Tage lang wurde ich von tausend Pflichten in Anspruch genommen. Ich erfüllte sie jedoch nur zerstreut, denn mich quälte der Gedanke, Hypatia könnte an den See
    zurückgekehrt sein und, als sie mich nicht vorfand, gedacht haben, sie habe mich durch ihre Flucht beleidigt und ich wolle sie nicht mehr wiedersehen. Ich war bestürzt bei dem Gedanken, sie könnte bestürzt sein und mich nicht mehr sehen wollen.
    Wenn es so wäre, würde ich mich auf ihre Spur setzen, würde hoch zu Roß an dem Ort erscheinen, wo die Hypatien lebten,
    -544-
    und... Was würde ich tun, würde ich sie rauben, würde ich den Frieden jener Gemeinschaft zerstören, würde ich ihre Unschuld trüben, indem ich ihr zu verstehen gäbe, was sie nicht verstehen durfte? Oder würde ich sie, im Gegenteil, ergriffen von ihrer Mission sehen, nun frei von einem kurzen, winzigen Anflug irdischer Leidenschaft? Aber hatte es diesen Anflug wirklich gegeben? Ich vergegenwärtigte mir jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen. Zweimal hatte sie unsere Begegnung als Beispiel benutzt, um zu sagen, wie Gott war, aber vielleicht war das nur eine kindliche, ganz unschuldige Art gewesen, mir verständlich zu machen, was sie meinte. Zweimal hatte sie mich berührt, aber so, wie sie eine Sonnenblume

Weitere Kostenlose Bücher