Baudolino
Tochter oder eine kleine Schwester hätte empfinden können. Ich glaube, es geht allen Verliebten so, aber in jenen Tagen war ich überzeugt, daß Hypatia die erste Frau war, die ich wirklich liebte - und sicher war sie das auch und ist es noch und wird es immer bleiben. Später begriff ich, daß wahre Liebe ihren Wohnsitz im innersten Herzen aufschlägt und dort Ruhe findet, aufmerksam für ihre nobelsten Geheimnisse, und daß sie nur selten in die Räume der Vorstellung zurückkehrt. Deshalb gelingt es ihr nicht, die körperliche Gestalt der abwesenden Geliebten zu reproduzieren. Nur die Liebe zur Unzucht, die nie bis ins Innerste des Herzens eindringt und sich allein von lüsternen Phantasien ernährt, vermag solche Bilder zu produzieren.«
Niketas schwieg, doch es fiel ihm sichtlich schwer, seinen Neid zu beherrschen.
Ihre Wiederbegegnung war schüchtern und bewegt. Hypatias Augen strahlten vor Glück, aber gleich darauf senkte sie schamhaft den Blick. Sie setzten sich ins Gras. Akazio weidete friedlich in geringer Entfernung. Die Blumen ringsum dufteten mehr als gewöhnlich, und Baudolino fühlte sich, als hätte er gerade ein Schlückchen burq gekostet. Er wagte nicht zu sprechen, aber schließlich rang er sich dazu durch, weil die Intensität ihres Schweigens ihn sonst zu einer unkontrollierten
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Bewegung hingerissen hätte.
Erst jetzt verstand er, warum er hatte erzählen hören, daß die wahren Liebenden bei ihrem ersten Liebesgespräch erbleichen, zittern und immer wieder verstummen. Es geschieht, weil die Liebe, da sie sowohl das Reich der Natur wie das der Seele beherrscht, alle Kräfte beider auf sich zieht, wie immer sie sich auch bewegt. So bringt die Liebe, wenn die wahren Liebenden sich begegnen, alle Funktionen des Körpers ins Stocken und fast zum Stillstand, sowohl die körperlichen wie die geistigen: Die Zunge weigert sich zu sprechen, die Augen zu sehen, die Ohren zu hören, und jedes Glied entzieht sich seiner Pflicht.
Dies hat zur Folge, daß der Körper, wenn die Liebe sich allzu lange im innersten Herzen aufhält, seiner Kräfte beraubt verfällt.
An einem bestimmten Punkt jedoch wirft das Herz, wegen der Ungeduld der Liebesglut, die es empfindet, seine Leidenschaft gleichsam hinaus und erlaubt damit dem Körper, seine
Funktionen wieder aufzunehmen. Und dann spricht der
Liebende.
»So ist es«, sagte Baudolino, ohne zu erklären, was er
empfand und was er gerade verstanden hatte, »all die schönen und schrecklichen Dinge, die du mir erzählt hast, sind das, was euch die weise Hypatia gelehrt hat...«
»O nein«, sagte sie, »ich habe dir gesagt, daß unsere
Ahninnen, als sie fliehen mußten, alles vergessen hatten, was Hypatia sie gelehrt hatte, außer der Pflicht zur Erkenntnis.
Durch Meditation haben wir dann immer mehr von der Wahrheit entdeckt. Jede von uns hat während dieser Jahrtausende
nachgedacht über die Welt, die uns umgibt, und über das, was sie in ihrer Seele empfand, und so ist unser Bewußtsein Tag für Tag reicher geworden, und das Werk ist noch nicht vollendet.
Vielleicht waren in dem, was ich dir gesagt habe, auch ein paar Dinge, die meine Gefährtinnen noch nicht verstanden haben und
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die nur erst aufgegangen sind, als ich versuchte, sie dir zu erklären. So macht jede von uns sich weise, indem sie den anderen erklärt, was sie fühlt, und während sie es erklärt, lernt sie es selber verstehen. Wenn du nicht hier bei mir wärest, hätte ich mir selbst vielleicht einige Dinge nicht so klar gemacht. Du warst mein guter Geist, mein gütiger Archont, Baudolino.«
»Sind alle deine Gefährtinnen so klar und beredt wie du, meine liebreizende Hypatia?«
»Oh, ich bin unter ihnen die letzte. Manchmal machen sie sich über mich lustig, weil ich nicht ausdrücken kann, was ich empfinde. Ich muß noch wachsen, verstehst du? Aber in diesen Tagen habe ich mich stolz gefühlt, als hätte ich ein Geheimnis, das sie nicht kennen, und - ich weiß nicht, warum - ich habe es lieber für mich behalten. Ich verstehe nicht recht, was mit mir geschieht, es ist, als ob... als ob ich das alles lieber zu dir sagte als zu ihnen. Meinst du, das ist etwas Schlechtes, bin ich unlauter zu ihnen?«
»Du bist lauter zu mir.«
»Bei dir ist es leicht. Ich glaube, dir könnte ich alles sagen, was mir durch den Sinn geht und ins Herz kommt. Auch wenn ich nicht sicher wäre, ob es richtig ist. Weißt du, was mir in diesen Tagen passiert ist, Baudolino? Ich habe von dir
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