Baudolino
mindestens eine Stunde auf. Die Hunnen wußten freilich, daß sie Zeit hatten. Sie begnügten sich damit, an die Ränder des Feuers zu reiten, ihre Bögen zum Himmel zu heben und so viele Pfeile abzuschießen, daß der Himmel verdunkelt wurde, um sie jenseits der
Feuerwand niedergehen zu lassen, ohne zu wissen, ob dort noch andere Feinde warteten.
Einer der Pfeile kam zischend heruntergesaust und bohrte sich in Ardzrounis Hals. Der Getroffene stürzte mit einem erstickten Schrei zu Boden und spuckte Blut. Als er die Hände hob, um sich den Pfeil herauszureißen, sah er, daß sie sich mit weißen Flecken überzogen. Baudolino und der Poet beugten sich über ihn und raunten ihm zu, dasselbe geschehe gerade mit seinem Gesicht. »Siehst du, Solomon hatte recht«, sagte der Poet, »es gibt ein Heilmittel. Vielleicht sind die Pfeile der Hunnen mit einem Gift getränkt, das für dich ein Gegengift ist und die Wirkung der schwarzen Steine aufhebt.«
»Was kümmert's mich, ob ich weiß oder schwarz sterbe«,
röchelte Ardzrouni und starb mit noch unbestimmter Farbe.
Doch weitere Pfeile hagelten nun immer dichter, und sie mußten den Hügel verlassen. Sie flohen zur Stadt, und mit versteinertem Gesicht sagte der Poet: »Es ist vorbei, ich habe ein Reich verspielt. Vom Widerstand der Panothier dürfen wir uns nicht allzuviel erwarten. Wir können nur hoffen, daß uns die Flammen noch etwas Zeit lassen. Holen wir unsere Sachen und verschwinden wir hier. Nach Westen ist der Weg noch frei.«
Baudolino hatte in diesem Moment nur einen einzigen
Gedanken. Die Hunnen würden nach Pndapetzim eindringen
und es zerstören, aber ihr wütender, alles niedertretender Sturm
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würde damit nicht enden, sie würden bis zu dem See vordringen und in den Wald der Hypatien einfallen. Er mußte ihnen
zuvorkommen. Aber er konnte seine Freunde nicht im Stich lassen, er mußte sie wiederfinden, ihre Sachen holen, ein bißchen Proviant einpacken, sich auf eine lange Flucht
vorbereiten. »Gavagai, Gavagai!« rief er, und im Nu stand sein treuer Helfer neben ihm. »Lauf zum See, finde Hypatia, ich weiß nicht, wie, aber finde sie. Sag ihr, sie soll sich bereithalten, ich komme sie retten!«
»Ich nix wisse, wie, aber ich sie finde«, sagte der Skiapode und sauste davon.
Baudolino und der Poet kamen in die Stadt. Die Nachricht von der verheerenden Niederlage war inzwischen eingetroffen, Frauen aller Rassen liefen mit ihren Kleinen auf dem Arm ziellos herum. Die erschrockenen Panothier stürzten sich im Glauben, sie könnten nun fliegen, ins Leere. Aber sie waren nur dazu ausgebildet, sich im Gleitflug sinken zu lassen, nicht schwebend in der Luft zu verharren, und so waren sie im Handumdrehen unten. Diejenigen, die verzweifelt mit den Ohren zu schlagen versuchten, um sich in der Luft zu halten, stürzten nach kurzer Zeit erschöpft ab und zerschellten an den Felsen. Baudolino und der Poet fanden Colandrino, der
verzweifelt über den Mißerfolg seiner Ausbildung war, und Solomon und Boron und Kyot, die nach den anderen fragten.
»Sie sind tot, Friede ihren Seelen«, sagte der Poet grimmig.
»Rasch zu unserer Felsenhöhle«, rief Baudolino, »und dann ab nach Westen!«
In ihrer Felsenhöhle rafften sie alles zusammen, was sie in die Finger bekamen. Als sie eilig hinunterstiegen, sahen sie vor dem Turm ein Hin und Her von Eunuchen, die ihr Hab und Gut auf Maultiere luden. Praxeas kam mit fahlem Gesicht auf sie zu.
»Der Diakon ist tot, und du hast es gewußt«, sagte er zu
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Baudolino.
»Tot oder lebendig, du wärst ohnehin geflohen.«
»Wir gehen fort. In der Schlucht werden wir die Lawine
auslösen, und der Weg zum Reich des Priesters wird für immer versperrt sein. Wollt ihr mitkommen? Ihr müßt euch aber an unsere Vereinbarungen halten.«
Baudolino fragte gar nicht, welche Vereinbarungen er meinte.
»Was liegt mir an deinem verdammten Priester Johannes«, schrie er, »ich habe an ganz was anderes zu denken! Los, Freunde, gehen wir.«
Die anderen waren zuerst eine Weile sprachlos. Dann räumten Boron und Kyot ein, daß ihr eigentliches Ziel immer noch war, Zosimos mit dem Gradal wiederzufinden, und Zosimos war
sicher noch nicht ins Reich gelangt und würde auch nie mehr dorthin gelangen. Colandrino und der Boidi sagten, mit
Baudolino seien sie gekommen, mit Baudolino würden sie auch wieder gehen. Solomon bemerkte, seine zehn Stämme könnten sowohl jenseits wie diesseits jener Berge sein und daher sei für ihn jede
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