Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
die Gestalt der Geliebten: Sie bekam schöne glatte weiße Beine, wie sie die Menschenfrauen haben, und einen Ziegenkopf.
    Eines Tages sagte Gavagai den Gefangenen, daß ihre Waffen und ihre Reisesäcke in einer Kammer lagen und daß er sie holen könne, wenn sie eine Flucht versuchen wollten. »Ja glaubst du denn wirklich, Gavagai, daß wir eines Tages von hier fliehen können?« fragte ihn Baudolino.
    »Ich glaube ja. Ich glaube, gibt viele gute Arten von Flucht.
    Muß nur rausfinden, welche beste. Aber du werden dick wie Eunuche, und wenn dick, du schlecht fliehen. Du muß Körper bewegen, wie ich, du halte Fuß über Kopf, dann du werden sehr schnell.«
    Den Fuß hielt sich Baudolino nicht über den Kopf, aber er begriff, daß die Hoffnung auf eine Flucht, sei sie auch vergeblich, ihm helfen würde, die Gefangenschaft zu ertragen, ohne verrückt zu werden, und so bereitete er sich darauf vor, indem er die Arme streckte und Kniebeugen machte, bis er erschöpft auf seinen wohlgerundeten Bauch fiel. Er empfahl es auch den anderen, und mit dem Poeten übte er
    Kampfbewegungen; bisweilen verbrachten sie ganze
    Nachmittage mit dem Versuch, sich gegenseitig zu Boden zu werfen. Mit der Kette am Fuß war das nicht leicht, und sie hatten ihre einstige Gelenkigkeit verloren. Nicht nur wegen der Gefangenschaft. Es war das Alter. Aber die Bewegung tat ihnen
    -577-
    gut.
    Der einzige, der seinen Körper völlig vergaß, war Rabbi Solomon. Er aß nur sehr wenig und war zu schwach für die verschiedenen Arbeiten, so daß die Freunde seinen Teil
    übernahmen. Da er keine Buchrolle zum Lesen und kein
    Werkzeug zum Schreiben hatte, verbrachte er seine Tage damit, den Namen des Herrn zu wiederholen, und jedesmal war es ein anderer Klang. Er hatte die noch verbliebenen Zähne verloren, sein Mund war jetzt auf beiden Seiten zahnlos. Er aß mummelnd und sprach nuschelnd. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß die zehn verstreuten Stämme nicht in einem Reich bleiben konnten, das zur Hälfte von Nestorianern bewohnt war - die ja noch angehen mochten, denn auch für die Juden konnte die gute Frau Maria unmöglich einen Gott geboren haben -, aber zur anderen Hälfte von Götzenanbetern, die je nach Lust und Laune die Zahl ihrer Götter vermehrten oder verringerten.
    Nein, sagte er sich ungetröstet, vielleicht sind die zehn Stämme durch das Reich gezogen und haben danach wieder
    angefangen, in der Welt umherzuschweifen. Wir Juden suchen immer nach einem Gelobten Land, sofern es nur anderswo ist, und wer weiß, wo sie jetzt sein mögen, vielleicht sind sie ganz in der Nähe von diesem Ort, wo ich dabei bin, meine Tage zu beenden, aber ich habe alle Hoffnung verloren, ihnen zu begegnen. Erdulden wir die Prüfungen, die uns der Herr, heilig immerdar sei der Gesegnete, schickt. Hiob hat Schlimmeres erlebt.
    »Er war mit dem Kopf woanders, das sah man ihm an. Und
    mit dem Kopf woanders schienen mir auch Boron und Kyot zu sein, die ständig über jenen Gradal phantasierten, den sie zu finden hofften, ja den sie inzwischen sicher waren zu finden, und je mehr sie von ihm redeten, desto wunderbarer wurden seine ohnehin schon wunderbaren Kräfte und desto heftiger träumten sie davon, ihn zu besitzen. Der Poet wiederholte in
    -578-
    einem fort: Laßt mich nur Zosimos zu fassen kriegen, dann werde ich zum Herrn der Welt. Vergeßt Zosimos, sagte ich: Er ist nicht einmal bis nach Pndapetzim gelangt, vielleicht hat er sich unterwegs verirrt, sein Skelett verstaubt irgendwo an einem staubigen Ort, seinen Gradal haben sich ungläubige Nomaden genommen, die ihn vielleicht als Nachttopf benutzen. Sei still, sei still, sagte Boron erbleichend.«
    »Wie habt ihr's geschafft, aus dieser Hölle zu entkommen?«
    fragte Niketas.
    »Eines Tages sagte uns Gavagai, er habe den Fluchtweg
    gefunden. Der arme Gavagai, auch er war inzwischen gealtert.
    Ich weiß nicht, wie alt Skiapoden werden, aber er war nicht mehr sich selbst voraus, wie der Blitz. Er kam eher wie der Donner, ein bißchen hinterher, und nach dem Lauf keuchte er.«
    Der Plan war folgender: Man mußte den Eunuchen, der das Amt des Vogel-Roch-Wärters versah, mit Waffengewalt
    überraschen, ihn zwingen, die Vögel wie gewohnt aufzuzäumen, aber so, daß die Ledergurte, die ihr Transportgut sicherten, um die Hüften der Flüchtlinge gebunden wurden.
    Dann mußte er den Vögeln befehlen, nach Konstantinopel zu fliegen. Gavagai hatte mit dem Wärter gesprochen und erfahren, daß die Vögel oft dorthin

Weitere Kostenlose Bücher