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Bauernjagd

Bauernjagd

Titel: Bauernjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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zum
Backhaus hinüber. Sie betrachtete das Gras neben der Fachwerkwand, doch von
Weitem war erst recht nichts zu erkennen. In dem Moment bemerkte sie, dass
Melchior Vesting hinter einem Fenster stand und sie beobachtete.
    Also drehte sie sich um und steuerte ihren Dienstwagen an.

12
    Annikas Arbeitstag endete in der Regel um kurz nach fünf,
mit dem Kälberfüttern und dem anschließenden Reinigen der Milchtröge. Danach
ging sie ins Haus, zog sich um und gesellte sich meist zu ihrer Mutter in die
Küche, um bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Doch heute blieb sie
in ihrem Zimmer. Sie wollte allein sein und nachdenken.
    Die Sache mit dem toten Huhn schwebte wie ein dunkler Schatten über
allem. Keine der Frauen sprach darüber, dennoch war es allen anzumerken, dass
sie von den Ereignissen ziemlich mitgenommen waren.
    Vor ihrem Zimmerfenster tanzten die letzten Mücken des Jahres über
dem nebligen Dunst, der sich aus Gräben und Wiesen erhob. Hinterm Horizont
verschwand die Sonne und hinterließ am Abendhimmel leuchtend rote Wolkenfetzen.
    Sie fragte sich, wie ihr Vater reagiert hätte. Wie ernst hätte er
die Sache genommen? Wenn er nur hier wäre. Dann bräuchten sie keine Angst zu
haben.
    Eine der Katzen lief durch den Garten und schlich die steinernen
Stufen zur Terrasse hinauf, bis sie im Schatten der Stallwand verschwunden war.
    Annika erinnerte sich, wie sie mit vier Jahren über eben diese
Steinstufen gestolpert war und sich einen komplizierten Beinbruch zugezogen
hatte. Sechs Wochen Krankenhaus waren die Folge gewesen. Sechs endlose Wochen
auf einer Station voller schwerkranker Kinder, mit einer herrischen Nachtschwester,
die kein Erbarmen kannte mit den heimwehkranken kleinen Patienten, die sich
durch unruhige Nächte quälten.
    Es war im Spätsommer gewesen, die Ernte wurde eingebracht, und
niemand hatte Zeit, sie zu besuchen. Außerdem hatte sich im Kälberstall eine
gefährliche Durchfallkrankheit ausgebreitet. Und doch war er plötzlich da gewesen,
ihr Vater! Ganz unerwartet, trotz der vielen Arbeit auf dem Hof, war er
gekommen. Ein einziger Blick hatte ihm gereicht, um zu sehen, was in ihr
vorging. Sein tapferes kleines Mädchen. Annika hatte nicht geklagt und nicht um
Hilfe gerufen. Und doch hatte er sie gehört und war gekommen. Er hatte sich
vergewissert, dass sie unbeobachtet waren, sie aus dem Bett gehievt und
geflüstert: »Wir gehen jetzt ein Eis essen.« Dann hatte er seinen schwieligen
Zeigefinger auf die Lippen gelegt, ihr verschwörerisch zugezwinkert und sie eilig
durch die Flure und den verwaisten Haupteingang getragen.
    Einen ganzen Nachmittag lang hatten sie am Aasee gesessen,
miteinander geredet und über das glitzernde Wasser geblickt, endlose Stunden
voller Wärme und Zuneigung. Es war bereits dunkel gewesen, als er sie in ihr
Krankenzimmer zurückbrachte, flankiert von einer herumzeternden Nachtschwester.
Doch ihr Vater hatte gar nicht darauf reagiert, er hatte sie ruhig ins Bett
gelegt, ihr noch einmal zugezwinkert und dann die Zimmertür hinter sich geschlossen,
um sich dem Krankenhauspersonal zu stellen.
    Annika legte die Hand an die kühle Scheibe ihres Fensters. Es kam
häufig vor, dass sie einfach so dasaß, herumträumte und sich fragte, welcher
wohl der schönste Tag ihres Lebens gewesen war. Es kamen bestimmt einige in
Frage, aber dieser Tag, als ihr Vater mitten in der Erntezeit zu ihr gekommen
und sie aus dem Krankenhaus entführt hatte, gehörte mit Sicherheit zu den
glücklichsten. Sie wünschte sich so sehr, sie hätte ihm das irgendwann einmal
gesagt. Das wünschte sie sich mehr als alles andere.
    »Kurze? Bist du hier oben?«
    Marita war in ihrer Zimmertür aufgetaucht. Sie war auf dem Weg zur
Dusche und lehnte sich in den Türrahmen. Offenbar bemerkte sie, dass ihre
Schwester in Gedanken weit entfernt war. Sie lächelte.
    »Na? Woran denkst du gerade?«
    Annika ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
    »Frau Wegener hat mich für eine Volontariatsstelle vorgeschlagen.
Ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll.«
    »Hast du deswegen dieses Interview mit Clemens’ Cousine gemacht?«
    Sie nickte.
    »Aber das ist doch toll, das müssen wir feiern.«
    »Noch habe ich den Job nicht. Außerdem wäre der in Steinfurt. Ich
müsste ganztags arbeiten.«
    »Und wo ist das Problem?«
    »Ich bin doch fest eingeplant auf dem Hof. Wer soll denn meine ganze
Arbeit machen?«
    »Da mach dir mal keine Sorgen. Das kriegen wir schon irgendwie hin.
Ich freu mich ja, dass du

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