Bauernopfer
dem Unbekannten?«, fragte einer aus der Runde.
»Der Vater war dagegen, dass die Kollegen mit Kiara selbst sprechen, solange sie so aufgewühlt ist. Aber zu ihm hat sie gesagt, der Täter sei sehr groß und kräftig gewesen und habe bayerischen Dialekt gesprochen. Mehr weiß sie nicht, weil er eine Motorradhaube aufhatte.«
»Was bedeutet das mit der Mutter und dem zerstörten Leben?«
»Kiaras Vater ist Wolfram Maria Bierschneider, unser bekannter Rechtsanwalt und Stadtrat. Auch Kiaras Mutter war als Rechtsanwältin tätig, ehe sie das Kind bekam. Sie hatte oft Mandate von Opfern in Vergewaltigungsprozessen übernommen und war berüchtigt gewesen für ihre knallharten Forderungen. Die Familie hat in den letzten zwei Jahren drei oder vier Drohbriefe erhalten, in denen angekündigt wurde, Kiara müsse büßen für das Unrecht, das ihre Mutter angerichtet habe. Es könnte sich also um die Rache eines Vergewaltigers handeln, der die letzten zehn Jahre eingesperrt war und das als ungerecht empfindet.«
Charly konnte sich nicht zurückhalten: »Das hört sich aber äußerst mysteriös an, oder?«
Wieder wischte Barsch den Einwurf beiseite. »Ihr wisst ja, wie Bierschneider zur Polizei steht. Er hat bereits eine Pressekonferenz für heute Nachmittag angekündigt, bei der es aber vermutlich nur nebenbei um den Überfall auf seine Tochter gehen wird. Hauptsächlich wird er dieses Forum wieder nutzen, um die Sicherheitslage in Ingolstadt schlecht zu reden und die Arbeit der Polizei runterzuziehen. Wie immer halt.«
Mit offenen Mündern hatten die Beamten Barschs Ausführungen verfolgt. Nur der Chef hatte die Unterlippe über die Oberlippe geklappt und die ganze Zeit unbewegt vor sich auf den Tisch gestarrt.
›Wahrscheinlich überlegt er fieberhaft, mit welcher Ausrede er am glaubhaftesten verschwinden kann, damit er zur Pressekonferenz nicht da sein muss‹, dachte Charly. Es war erschreckend, wie die Erwähnung eines einzelnen Namens gestandene Hauptkommissare erzittern ließ. Klar, Bierschneider war eine große Nummer. Jeder kannte den umtriebigen Stadtrat mit den hervorragenden Beziehungen bis in höchste Regierungskreise, der keine Möglichkeit ausließ, um Fehler und Versäumnisse der Polizei aufzudecken. Und in Bierschneiders Augen machte die Polizei nur Fehler. Wurde ein Täter nicht ermittelt, hatten sowieso alle versagt, und wurde ein Täter ermittelt, so war dies nach Bierschneiders Meinung stets viel zu spät geschehen und vermutlich nur aufgrund illegaler Methoden oder nach eklatanten Verstößen gegen den Datenschutz. Dieser Fall seiner Tochter war Wasser auf seinen Mühlen. Doch auch wenn Charly nach der ersten Schilderung des Vorfalles seine Zweifel hatte, ob sich wirklich alles so zugetragen hatte, musste man etwas unternehmen, das war klar.
»Dieser Fall ist natürlich Wasser auf Bierschneiders Mühlen«, führte Barsch seinen Vortrag weiter, nachdem der Chef nichts sagte. »Egal, ob jemand nach der ersten Aussage Zweifel am Tathergang hat, wir müssen was unternehmen, das ist klar.« Mit einer umfassenden Handbewegung schloss er alle seine Kollegen in das »wir« ein.
»Darum gründen wir eine Arbeitsgruppe, die AG Kiara, die sofort im Anschluss mit der Arbeit beginnt. Wie ja alle wissen, ist die Personalsituation derzeit stark angespannt. Kollege Krause ist immer noch und bis auf weiteres nach Mittelfranken abgeordnet. Schwaiger wurde am Knie operiert und kommt so schnell nicht wieder. Stollberg ist die nächsten zwei Wochen auf Lehrgang, die Marquart hat Urlaub und die Kaiser Elli ist schwanger und seit letzter Woche in Mutterschutz. Damit bleiben für die AG: ich als Leiter, der Paul als Hauptsachbearbeiter, Albert für Aktenführung und Erfassung, Franz und Rosi als Ermittler.« Diese Ankündigung ließ er durch Schweigen zunächst einmal wirken. Der Dienststellenleiter starrte vor sich auf die Tischplatte. Paul, Albert, Franz und Rosi nickten mit ernster Miene ihr Einverständnis. Der Aussicht, sich am Schluss als Mitglied einer als unfähig dargestellten Arbeitsgruppe zu blamieren, stand die Möglichkeit gegenüber, sich in einem Aufsehen erregenden Fall öffentlichkeitswirksam als Ermittler zu profilieren. Offenbar wollte sich diese Chance keiner der Angesprochenen entgehen lassen.
Charly schwante Übles. Er war momentan der Einzige, der übrig blieb. Ihm würden also nicht nur der Fall des toten Landwirtes, sondern auch alle übrigen Routineaufgaben im Tagesgeschäft bleiben.
Ȁh,
Weitere Kostenlose Bücher