Bauernopfer
in die Dokumente ein. Den ganzen Nachmittag waren Sandra und er damit beschäftigt, die logische Ordnung in Vermerken und Berichten wiederherzustellen. Er diktierte und Sandra schrieb, verschob, kopierte und fügte ein.
Kurz nach 16.00 Uhr stürmte Helmuth ins Büro. Er zog seine Jacke von der Stuhllehne und schlüpfte hinein.
»Na, fit in STUPID?« ,fragte Charly.
»Ihr habt’s doch alle an Schlag! Bis morgen.« Und weg war er.
Um halb fünf waren die Dokumente endlich wieder in der gewünschten Form abgespeichert. Charly sah auf den Stapel aus Aktendeckeln, der auf seinem Schreibtisch langsam in die Höhe wuchs. Es warteten immer noch einige Krankenhausleichen, ein Exhibitionist und andere Ermittlungsersuche auf die Bearbeitung.
»Das machen wir morgen«, entschied Charly. »Jetzt fahr’n wir noch mal zum älteren Bichler.«
In der Auffahrt vor der Garage stand ein schwarzer Audi A6 Avant. Christian Bichler öffnete die Haustür, bevor sie geklingelt hatten. Offenbar hatte die Haushälterin als Nachrichtendienst funktioniert. Bichler trug ein helles Hemd mit dunkler Krawatte und sah aus, als wäre er gerade aus der Manageretage nach Hause gekommen. Zur Begrüßung reichte er ihnen die Hand. Charly musste ihm erklären, dass ihm Händeschütteln derzeit leider nicht möglich war. Er registrierte einen außergewöhnlich herben Männerduft, der sehr gut zu Bichlers kantigem Kinn passte. Außer den pechschwarzen Haaren hatte er keine Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Christian Bichler war groß, mindestens eins achtzig, und wirkte durchtrainiert. Er war gepflegt vom Kopf bis zu den Fingernägeln.
»Was kann ich für Sie tun, Herrschaften?«
»Wir müssen Ihnen mitteilen, dass unserer Meinung nach Ihr Vater keinen Selbstmord beging«, eröffnete ihm Charly.
»Sie meinen, es war ein Unfall?«
Ohne zu antworten, sahen sie ihn an und das war anscheinend Antwort genug.
»Jemand hat ihn umgebracht?« Er wirkte wirklich überrascht. Die Vorahnung seines Bruders schien er nicht zu teilen.
Charly und Sandra stellten ihre Fragen und erfuhren, dass Christian zu seinem Vater und seinem Bruder überhaupt keinen Kontakt mehr pflegte.
»Brauchen Sie kein Holz?«, entfuhr es Sandra.
Bichler hatte die Brücken zu seinem Vater vollständig abgebrochen, nachdem er vor Jahren von zu Hause ausgezogen war und sich eine eigene Existenz aufgebaut hatte. Auch wegen seiner Frau, die die Lebensweise sowie den Charakter seines Vaters niemals akzeptiert hatte.
Wie aufs Stichwort fuhr draußen ein silberner Audi TT Cabrio vor. Eine Frau mit blonder Mähne in einem grauen Hosenanzug stieg aus und kam ins Haus. Vor ihr lief ein etwa fünfjähriger Junge grußlos an Bichler, Charly und Sandra vorbei, die breite Treppe hinauf und in eines der oberen Zimmer.
Die Frau grüßte ebenfalls nicht.
»Wir müssen uns eine andere Tagesstätte für Kevin suchen. Die maulen mich doch tatsächlich an, nur weil ich ein paar Minuten zu spät komme. Ich habe auch meine Arbeit. Was denken die sich eigentlich?«
»Schatz, die Herrschaften sind von der Kripo«, unterbrach Bichler ihren Redefluss.
Ohne stehen zu bleiben, musterte sie Charly und Sandra. »Guten Abend, tut mir Leid. Ich habe es eilig.« Auch sie verschwand über die Treppe nach oben.
»Dienstags hat sie abends ihren Aquarellkurs. Da wird’s zeitlich immer ein wenig knapp«, entschuldigte Bichler seine Frau.
Dann sprachen sie weiter über Bichler senior. Der Sohn kannte zwar den streitbaren Charakter seines Vaters, von konkreten Streitereien oder gar Feinden wusste er jedoch nichts. Das Dahinscheiden seines Erzeugers erfüllte ihn in keinster Weise mit Trauer. Charly überlegte, wie die Kindheit der beiden Brüder verlaufen sein mochte, dass sie einen derartigen Groll gegen den Vater hegten.
Auch Christian Bichler wusste nichts von weiteren Verwandten. Er ging ebenfalls davon aus, dass er sich das Erbe mit seinem Bruder teilen werde. Von Kaufangeboten hatte er noch nichts gehört und Frauenbeziehungen seines Vaters waren ihm nicht bekannt.
Aus Kevins Zimmer konnte man inzwischen das blecherne Geballer eines Computerspieles hören und auch Frau Bichler erschien wieder auf der Treppe. Sie trug jetzt eine Jeans, einen Wollpullover mit weiten Ärmeln und eine Baskenmütze. Im Vorbeigehen hauchte sie ihrem Gatten einen Kuss auf die Wange. »Ich muss los. Kann heute später werden.«
»Wir geh’n gleich mit«, sagte Charly. »Bemühen Sie sich nicht, Herr Bichler. Wir machen dann
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