Bauernopfer
sers«, keuchte er. Gleich nach dem Abbiegen wunderte er sich, warum an einem Mittwochabend so viele Leute aus der Kirche kamen. Dann fiel ihm ein, dass vermutlich gerade der Rosenkranz für die gestern verstorbene Huber Anni beendet war. Die Hälfte der Kirchgänger kam ihm entgegen, die anderen entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung.
»Guten Abend, Herr Valentin.«
Lächeln und winken.
»Servus, Charly.«
Winken und grüßen.
»Charly, zefix, du bist ja drauf, oder.«
Grüßen und lächeln. Und weiter.
Als er endlich wieder zu Hause ankam, war Charly fest überzeugt, mindestens eine Stunde gerannt zu sein. Die Stoppuhr zeigt dagegen nur 25 Minuten. Sein Puls raste, und Charly war sich sicher, dass es die ganze Nacht dauern würde, bis die Herzfrequenz wieder in einem nicht mehr beunruhigenden Bereich zu finden sein würde. Was aber egal war, denn er würde wahrscheinlich sowieso gleich sterben.
»Und, wie war dein Comeback?«, erkundigte sich Petra.
»Passt scho’«, presste er zwischen zwei Japsern hervor. »Warganzokay.« Dann schleppte er sich ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa sinken. Die Oberschenkel brannten, die Knie zitterten und die Knöchel schmerzten.
»Geht’s dir gut?«, fragte Petra von der Wohnzimmertür aus.
»Regeneration!« Japs. Auf dem Rücken liegend, Arme und Beine von sich gestreckt, sinnierte er vor sich hin. So bleib ich liegen. Ich beweg mich bis morgen früh nicht mehr. Keinen Zentimeter, dachte Charly. Petra wird mich schon füttern und mir auch ein wenig Flüssigkeit einflößen, damit ich nicht völlig dehydriere.
Doch dann meldete sich eine andere Stimme in ihm. ›Was bist Du denn für ein Schlappsack‹, sagte die Stimme. ›Nach ein bisschen Joggen völlig fertig. Dabei würde es dir wirklich nicht schaden. Schau dir doch den Ranzen an, den du vor dir her schleppst mit deinen 41 Jahren. Von wegen vererbt. Der kommt von dem Weizen jeden Abend zur Brotzeit. Und von dem zweiten zum Fernsehen und dem dritten, wenn Fußball kommt.‹ Charly war versucht, der Stimme zu widersprechen, fand aber keine Argumente. ›Jeden Abend auf der Couch rumliegen‹, fuhr die Stimme fort, ›immer mit dem Auto unterwegs, statt mit dem Rad. In den zweiten Stock mit dem Aufzug fahren. Da ist es ja kein Wunder, dass du fett wirst.‹
Charly hatte bereits den Entschluss gefasst, sich künftig mehr zu bewegen. Und die Ernährung umzustellen. Mehr Gemüse, Rohkost, Obst. Weniger Fleisch, mal ein paar Tage das Bier weglassen. Überraschenderweise schaffte er es schon beim zweiten Versuch, sich aufzurichten und in die Dusche zu humpeln.
Nach dem Reinigungsvorgang stellte er sich mit verschränkten Armen unter das heiße Wasser und genoss den wohligen Schauer. Das machte er öfter so, wobei in ihm dann immer zwei Geister kämpften. Zum einen sein Wohlbefinden, das ihm sagte, genieße es, lass das Wasser einfach laufen, du hast es dir verdient. Zum anderen sein schlechtes Gewissen, das ihm zuraunte, in Äthiopien müssten Kinder und Frauen kilometerweit laufen, um Wasser zu holen. Manchmal gewann sein schlechtes Gewissen. Dann drehte er das Wasser sofort ab und hatte das gute Gefühl, ein Stück der Welt gerettet zu haben. Und manchmal gewann sein innerer Schweinehund. So auch jetzt, denn er war schlichtweg unfähig, sich zu bewegen, so als würde die Verbindung zwischen dem befehlsgebenden Hirn und den ausführenden Muskeln fehlen.
Mit einem Stapel Handtücher kam Petra ins Bad und sah ihn hinter den Milchglasscheiben stehen. »Schorschi, du weißt schon, dass in Äthiopien Kinder und Frauen kilometerweit nach Wasser laufen.«
Charly drehte das Wasser ab und verließ die Dusche. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, trank er in der Küche demonstrativ einen halben Liter Mineralwasser.
»Als du beim Laufen warst, hat dein Handy wie Tarzan geplärrt«, teilte ihm Petra mit.
Das bedeutete, dass er eine SMS erhalten hatte. Habe was sehr Interessantes, morgen mehr, Helmuth, stand auf dem Display. Helmuth hatte die Nachricht vor einer halben Stunde geschickt und war natürlich jetzt am Telefon nicht mehr zu erreichen. Aber Charly war zu erschlagen, um sich lange darüber zu ärgern. Er legte sich ins Bett und schlief sofort ein.
Donnerstag, 16. Oktober
Charly konnte es kaum erwarten, Helmuths Neuigkeiten zu erfahren. Aber nur Sandra erschien pünktlich um 07.00 Uhr zum Dienst. Helmuth kam erst angeschlichen, als die Frühbesprechung bereits im Gange war. Und er sah aus, als hätte er
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