Baustelle Demokratie
jedoch die schleichende Entkopplung von gesellschaftlichen Entwicklungen zu bemerken. Man höre sich die Rede eines x-beliebigen Mandats- oder Amtsinhabers an: Nie (oder nur in äußerster Not) wird er Fehler eingestehen und Regelungsprobleme, nie wird er gar Ratlosigkeit oder Nachdenklichkeit zeigen, und nie wird er sich mit seiner Person an politische Überzeugungen binden. Nur selten hört man einen Politiker sagen: »Ich stehe eindeutig für dies oder jenes.« Die meisten politischen Bekenntnisse halten nur so lange, wie es opportun erscheint. Klare Statements mit eindeutigen Festlegungen gelten unter PR-Gesichtspunkten als töricht, viel besser eignet sich die weiche, flexible Formulierung, um alle Möglichkeiten offenzuhalten und das persönliche Fortkommen zu sichern.
Das Hartz-Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Politik, wie wir sie heute kennen, moralisch hochgradig relevante Sachverhalte – Menschen in einem reichen Land leben in Armut, Kinder werden von klein auf benachteiligt – nicht nach normativen Kriterien wie Gerechtigkeit, soziale Gleichheit, Rechtssicherheit, Transparenz und Fairness bearbeitet. Stattdessen erleben wir die Ausrichtung des politischen Handelns an systemischen Erfordernissen: Die Binnenlogik des Systems, bestehend aus Machtkalkülen, (vermeintlichen) PR-Gesetzen und synthetischen Thematisierungsstrategien, sorgt für eine Entkopplung von Politik und Lebenswelt – und damit bei vielen Menschen für ein Gefühl der Indifferenz und Gleichgültigkeit. Warum soll ich mich für Politik interessieren, wenn »die da oben« doch eh machen, was sie wollen? Hier grenzt eine verständliche, aber bedenklich verbreitete Einstellung an Resignation.
Und so kommt es zum Paradox heutiger Politik: Es wird jederzeit und ohne Unterlass über gesellschaftliche Probleme gestritten, die man unter Umgehung der Alltagssprache »Herausforderungen« nennt. Zugleich ist ein im emanzipatorischen Sinne sichtbarer Bezug zu konkreten Problemen und Nöten nicht erkennbar. Man positioniert sich für die Kamera, das Mikrofon, die Talkshow und feilt unermüdlich an »Sprachregelungen«. Die Plastiksprache der Politik hat erschreckende Ausmaße angenommen. Sie fördert die Entkopplung von Politik und Lebenswelt.
Der Euphemismus ist zum Normalzustand der Politik geworden. Immer war die eigene Position richtig. Am Wahlabend sind meistens alle Wahlsieger. Noch die schlechteste Nachricht wird in besänftigende, positiv wirkende Worthülsen verpackt. Sinkt die Arbeitslosigkeit, ist das immer ein Erfolg der eigenen Politik; steigt sie hingegen, liegt das am Versagen der anderen. Mit diesem Instrumentarium ist das Machtspiel – also die selbstbezügliche Seite der Politik – perfekt bedient, doch keinem einzigen Arbeitslosen oder sonst wie Betroffenen geholfen. Soziale Gerechtigkeit kann so nicht entstehen. Die soziale Misere, in der sich die deutsche Gesellschaft befindet, wird durch die etablierte politische Kultur ausgeblendet, während man sie dauerhaft thematisiert. Die politische Kultur von heute ist eine Kultur des Eskapismus. Ihre Protagonisten sind stets auf der Flucht – Flucht vor der Wahrheit, Flucht vor Transparenz und Offenheit, Flucht vor Verbindlichkeit.
Das alles löst beim »Publikum« einen starken Überdruss aus. Immer weniger Menschen glauben daran, dass staatliche Politik unter demokratischen Vorzeichen die Probleme der Gesellschaft lösen kann (zum Folgenden vgl. Embacher 2009 und 2001a). 37 Prozent der Deutschen glauben einer 2009 von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen repräsentativen Untersuchung zufolge, dass die Demokratie in Deutschland weniger gut oder schlecht funktioniert (6 Prozent schlecht, 31 Prozent weniger gut). Der jahrzehntelang nicht in Frage gestellte demokratische Grundkonsens scheint zumindest teilweise beschädigt zu sein.
Die genannte Untersuchung hat auch gezeigt, dass die Beurteilung der Demokratie in engem Zusammenhang mit der Einschätzung ihrer Fähigkeit steht, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, sind zum überwiegenden Teil (60 Prozent) zugleich der Meinung, die Demokratie in Deutschland funktioniere weniger gut oder schlecht. Besonders dramatisch ist die Situation in Ostdeutschland, wo 61 Prozent(!) der Bevölkerung das Funktionieren der Demokratie als weniger gut bis schlecht bewerten.
Ein Drittel (32 Prozent) der Bundesbürgerinnen und -bürger sind nicht (mehr) der Auffassung, dass sich
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